Dunkle Häfen - Band 1
hin und her, so als wäre es tatsächlich nur ein Spielball der Wellen. Das Rauschen drang gedämpft herein und erinnerte sie daran, dass es ein Kampf auf Leben und Tod war.
Ein Kampf, der kein Kampf war, weil eine Seite keine Waffen hatte.
Jeder Moment kann der allerletzte sein, überlegte Ramis und fühlte sich merkwürdig beklommen dabei. Einst war es ihr Wunsch gewesen zu sterben.
Ich will leben! schrie eine Stimme dringlich in ihr. Ich will nicht sterben, jetzt nicht mehr. Nicht ehe, ich meine Aufgaben erledigt habe, worin auch immer sie bestehen mögen. Nicht ehe, ich endlich leben kann!
Hatte sie denn überhaupt wirklich sterben wollen? Hier, in dieser seltsamen Atmosphäre zwischen den Welten, sah sie auf einmal einiges klarer. Sie war in einer Art entrückt, die sie nicht erklären konnte und glaubte sich weiser, als jemals zuvor. In ihr gab es einen Lebensdrang, der stärker war, als sie es für möglich gehalten hatte. In der Dunkelheit sah sie Zusammenhänge, die ihr nie bewusst gewesen waren. Vielleicht lag das daran, dass der Tod so nahe war, in seinem Angesicht überdenkt man sein Leben noch einmal, sieht, was man falsch gemacht hat. Nur eine dünne Schicht Holz trennte sie von ihm. Sanft legte sie ihre Arme um Edward. Er war erstaunlich still und folgsam. Sicher spürte auch er es. Ramis senkte ihren Kopf in sein nasses Haar. Aber sie wusste, dass sie wieder hochgehen würde. Es war sehr töricht, doch irgendeine verborgene Regung trieb sie dazu. Sie musste dieser Gewalt noch einmal gegenüberstehen. Mit leiser Stimme bat sie Edward, hier zu warten. Er sah sie erstaunt an, das spürte sie selbst durch die Dunkelheit hindurch. Er sagte allerdings nichts. Die Welt in diesem unwirklichen Dunkel war anders, ohne die üblichen Regeln, sie waren aufgehoben. Seine Wange berührte ihre Hand, als sie sich löste.
Draußen packte sie der Sturm mit einer solchen Wucht, dass er sie fast fortriss und über Bord wehte. Sie klammerte sich an den Mast. Das Deck war vom Regen glatt geworden. Durch die Regentropfen, die in ihre Augen peitschten, konnte sie kaum etwas sehen. Es war sowieso alles grau von den Regenschleiern. Wie durch ein Wunder hörte sie irgendwo Bess mächtige Stimme selbst über den Sturm hinweg. Ramis zweifelte nicht daran, dass auch die letzten hier an Deck sich bald zurückziehen würden. Keiner konnte hier etwas ausrichten. Der Sturm schien eher an Stärke zu gewinnen, als schwächer zu werden. Ramis konnte das irrige Gefühl nicht beschreiben, das sie erfasste, als der Sturm an ihr zerrte und ihr die Luft zum Atmen raubte. Es schien sie selbst mit einer wilden Kraft zu erfüllen, bis sie alles vergaß, außer dem Brausen um ihre Ohren. Sie... ein Arm umkrallte ihren mit der Absicht, mehr Halt zu finden. Blinzelnd erkannte sie Thomas.
"Du musst mit helfen, das Segel wieder fest zu machen!" , brüllte er ihr direkt ins Ohr; trotzdem klang es undeutlich.
Ramis wusste inzwischen: wenn sich das vollgesogene Segel löste, konnte es sehr viel Verwüstung anrichten. Möglicherweise würde es sogar einen der Masten umwerfen oder das Schiff so schwer beschädigen, dass sie keine Chance mehr hatten. Trotzdem war Thomas Vorhaben heller Wahnsinn. Niemals würde sie sich dort oben festhalten können. Weshalb sie dennoch ging, wusste sie nicht. Vielleicht weil sonst niemand da war. Es war nicht Weisheit, die aus ihr sprach, sondern nur Torheit, ein trügerischer Instinkt. Doch sie hatte keine Zeit für Angst. Jetzt musste Ramis handeln, auch wenn es sie leicht das Leben kosten konnte. Verbissen wankte sie hinter Thomas her, der den vorderen Mast ansteuerte. Es waren nur ein paar Meter, die nun aber unendlich lang erschienen. Ausreichend ungeschützte Fläche, um sie wie ein Blatt über Bord zu blasen. Als sie den Mast erreicht hatten, konnte Ramis undeutlich das lose Stück Segel erkennen. Noch war es nicht viel, aber bald würde das gesamte Segel herumfliegen und irgendwann über Bord gehen. Thomas begann an der Takelage hochzuklettern, die junge Frau sah, wie sehr er sich festklammern musste.
Das schaffe ich nie , dachte sie zaudernd. Dann nahm sie sich zusammen und mühte sich ebenfalls auf die Takelage. Krampfhaft krallte sie sich an die Seile, als der Sturm sie mit voller Wucht traf. Eine panische Angst, einfach über Bord geblasen zu werden, packte sie so wild wie der Sturm. Ein paar Sekunden schaffte sie es nicht, sich zu bewegen, doch schließlich kletterte sie weiter. So musste man sich in
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