Dunkle Häfen - Band 1
bitter auf.
"Warum ist alles nur so verdreht?" , fragte ich Edward.
Er verstand nicht.
"Ich meine, warum tun wir Menschen so viel Falsches?"
"Die Welt ist schlecht. Sie ist ein Kampfplatz, Tante."
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Du hast recht, mein Junge. Fressen oder gefressen werden, nicht wahr? Ich muss töten, um zu leben. Und doch ist es falsch."
Edward zuckte die Schultern. Es gibt Lebensräume, wo kein Platz für Edelmut ist. Dort kämpft jeder nur ums eigene Überleben. Er ist in der Straße aufgewachsen. Für mich scheint es jedoch manchmal unerträglich, zu glauben, es gäbe nur Selbstsucht und Kälte in dieser Welt. Es gibt doch auch Freundschaft und bedingungslose Loyalität. Bleibt da nicht noch Hoffnung? Wir schritten durch eine dunkle und feuchte Gasse, die mich sehr an London erinnerte. Nur ein paar Lichtstrahlen aus dem bewölkten Himmel erreichten hier den Grund. Moos wuchs in allen Ritzen und Rinnsteinen. Vom letzten Regen war es sehr glitschig. Ich trat vorsichtig auf und hatte den Blick auf den Boden gesenkt. Edward packte mein Arm.
"Schau mal, da!"
In seiner Stimme war eine Spur Abscheu, was etwas heißen musste. Ich wundere mich oft, wie abgebrüht er ist, obwohl er doch erst ein Kind ist. Ich folgte seinem ausgestreckten Finger und da verschlug es mir die Sprache. In der Mulde eines vergitterten Kellerfensters kauerte ein Wesen . Es sah kaum menschlich aus mit seinem bis zur Unkenntlichkeit verdreckten Gesicht. Die rotgeränderten Augen waren das einzig Helle darin. Auf dem Kopf des Geschöpfes standen ein paar Haarbüschel in die Luft, ansonsten sah man nur kahle Stellen, die mit Schorfen bedeckt waren. Der Leib war dürftig in ein paar Fetzen gehüllt. Das alles zu erkennen, dauerte lediglich ein paar Sekunden. Ich wusste, das Wesen gehörte zu den Allerärmsten, die man draußen fast nie sah. Sie waren wie bloße Schatten, das Leben in ihnen war längst erloschen. Sie gab es in jeder Stadt, in den dunkelsten Winkeln, diese stummen Wesen, die sich bis zuletzt an ihr Leben klammerten. Schattenwesen. Ich wollte wegrennen vor diesem abscheulichen Anblick, wollte dieses Elend von mir schieben. Aber dann erblickte ich diese Augen, die namenlose, lähmende Furcht darin. Es waren die Augen eines Lebewesens, das litt und ich konnte mich nicht mehr abwenden. Edward versuchte, mich weiter zu zerren. Er wollte nicht, dass ich mich mit dieser Armut abgab. Sie war krankheitsbehaftet, ansteckend. Aber ich wusste um das Gefühl, das in diesen Augen stand. Selbstaufgabe, bis man nur noch in einem Strudel aus Leid und eisiger Kälte lebte, nicht mehr Mensch sein. Das kleine Mädchen, das keine Worte kannte und in dem das Leben erstarrt war, lebte immer noch in mir. Es war viel zu oft getreten und davongejagt worden. Dieses Mal durfte ich es nicht allein lassen.
"Komm mit mir! " Meine Stimme zitterte und drohte zu versagen.
Edward starrte mich sprachlos an und ließ mich los. Ich wiederholte meine Forderung sanft. Das Geschöpf zog den Kopf zwischen die Schultern und glich einem verwundeten Tier. Ich fürchtete, dass es ebenso zubeißen könnte. Langsam streckte ich die Hand aus und redete beruhigend auf das Wesen ein. Es zuckte nur leicht zusammen, als ich die raue Haut berührte. Sie war kalt und feucht. Widerstandslos ließ es sich herausziehen. Voller Wut dachte ich, dass man ihm beigebracht hatte, Widerstand sei zwecklos. Um meiner selbst willen musste ich es mitnehmen. Vielleicht ist es ja auch das, warum wir gut sind. Um unser selbst willen. Ich wusste nicht einmal, ob es männlich oder weiblich war. Aber es schien ein Kind zu sein. Es konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich stützte es, obwohl alles in mir vor Abscheu schrie. Das Wesen stank überwältigend und ich fürchtete, mir eine Krankheit einzufangen. Edward redete auf mich ein, nannte mich verrückt.
"Tante, das kannst du nicht tun. Lass dieses Ding da, wo es war! Igitt, willst du, dass wir alle Räude bekommen?"
Ich biss die Zähne zusammen und ging weiter.
"Bitte, Edward. Lass das."
Als wir auf die Fate zukamen, reagierten die Männer, die da waren, überrascht. Edward schwieg erbittert, während sie von mir wissen wollten, was das sollte. Ich gab ihnen keine Antwort und befahl ihnen, mir aus dem Weg zu gehen. Sie zögerten. Auch sie mussten denken, ich wolle eine Seuche auf das Schiff schleppen. Es half nichts, ich musste das Geschöpf, das verängstigt an meinem Arm hing, erst einmal baden. Ich versuchte, nicht
Weitere Kostenlose Bücher