Dunkle Häfen - Band 1
geholfen, die unerwünschte Bälger loswerden wollten, weil sie verheiratet waren und ihre Ehemänner nichts davon wissen durften. Dafür benutzte er natürlich andere Mittel und auch die waren sehr gefährlich. Diesen Teil seines Metiers musste er im Geheimen betreiben, schließlich war es verboten. Dennoch hatte man ihn holen lassen, weil er sich auskannte. Diese 'Medizin' hatte damit allerdings wenig zu tun. Das war Gift, pures Gift. Er schüttelte den Kopf, weil sich solche Quacksalber als Ärzte bezeichneten, obwohl sie davon weniger Ahnung hatten als ein Kind, während er einige Dinge aus seiner Tasche zusammensuchte. Dann schaute er sich das Mädchen an und untersuchte es. Er äußerte, dass man gut daran getan hatte, Ramis das Gift wieder erbrechen zu lassen, denn sonst wäre sie jetzt tot.
"Die Kleine hat tüchtig Glück gehabt", meinte er schließlich. "Irgendjemand da oben muss es gut mit ihr meinen. Anscheinend hat sie das Giftigste an diesem Gebräu nicht gefunden. Gegen den Rest können wir vielleicht etwas tun."
Er zog ein paar Flaschen mit Medizin aus der Tasche und schüttete einige Tropfen daraus auf einen Löffel, den er Ramis in den Mund schob.
"Sie sollte sich in nächster Zeit nicht übergeben, damit die Medizin wirken kann. Ich lasse Ihr noch Medizin da, die Sie ihr zweimal täglich verabreichen muss, einmal morgens und einmal abends. Den Rest, so Gott will, wird die Zeit erledigen. Ich komme in Kürze wieder vorbei, um nach dem Mädchen zu sehen."
Der Arzt packte seine Sachen wieder zusammen und reichte Martha einen Zettel, auf dem die nötigen Anweisungen standen.
" Suche Sie sich jemanden, der es Ihr vorlesen kann."
Sie verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass sie selbst lesen konnte und begleitete den Doktor hinaus.
"Und sie wird wirklich wieder ganz gesund?" , fragte sie noch einmal bange, um eine endgültige Bestätigung zu bekommen.
Er nickte ungeduldig und verabschiedete sich mit einem Nicken. Vor der Tür erwartete ihn bereits ein anderer Diener, der ihn zu seiner Kutsche brachte. Als ihn der Haushofmeister mürrisch fragte, was nun mit dem Kind sei - zweifellos im Auftrag seines Herrn - verbarg der Arzt seine Befürchtungen hinter einem Lächeln. Es war nicht gut, seine Patienten zu verlieren... Dennoch wusste er sehr gut, dass die Überlebenschancen des Mädchens weniger gut standen, als er behauptet hatte. Im Grunde genommen glaubte er sogar, dass die Kleine sterben würde, weil sie keinen Willen zum Leben mehr hatte. Das erkannte jeder auf den ersten Blick, der mit den Tatsachen dieser Tragödie vertraut war. Kein normaler Mensch hätte dieses Gift eingenommen, wenn er nicht völlig verzweifelt war. Doch er hatte nicht zugeben wollen, wie wenig er eigentlich tun konnte. Wenn die Kleine später starb, würde man vielleicht nicht ihm die Schuld geben. Diese Tragödien geschahen überall auf der Welt, am besten man vergaß alles wieder, denn man konnte nichts daran ändern. Diener, die wie Sklaven behandelt wurden. Kleine Mädchen, die ihr Leben nicht leben wollten, deren dicker Bauch anklagend hervorstand. Deshalb hielt er sich auch möglichst aus den niederen Kreisen heraus. Zu schlimme Dinge passierten dort. Er zog seinem Mantel enger um sich, während er in die Kutsche stieg, als es - wieder einmal - zu regnen anfing.
Martha ging nervös die dunklen Flure von Maple House entlang. Sie hatte eine unglaublich schwere Aufgabe vor sich. Doch sie musste es tun, Ramis zuliebe. Die Näherin wollte, dass Sir Edward ihr in die Augen sah und ihr die Frage beantwortete, die ihr die ganze Zeit im Kopf herumgeisterte: Warum? Sollte er sie nachher doch rauswerfen; ihn zur Rechenschaft zu ziehen, war sie Ramis schuldig. Sie erwartete keine Reue, so etwas kannte dieser Mann nicht. Das einzige, was für ihn zählte, war die Macht, die Macht über alles. Sie kannte natürlich das Geschwätz der Diener über Sir Edwards Neigungen, denen seine Frau und seine Geliebten nicht gewachsen waren. Nie hätte sie geglaubt, dass sie mit dieser Welt in Berührung kam, ebenso wenig, wie sie auf Ramis gefasst gewesen war, das entwurzelte Geschöpf, das man wohl nur zu verwerflichen Zwecken aufgelesen hatte. Und niemals hätte sie erwartet, dass es zu einer solchen Tragödie kommen würde.
Ja, trotz allem hatte sie die ganze Zeit nur Angst um ihre Stellung, um ihr wohlgeordnetes Leben gehabt und hatte die Augen vor dem verschlossen, was dem Mädchen angetan wurde. Sie war zu dem geworden, was sie nie
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