Dunkle Häfen - Band 1
Leben hier. In der Nacht war jedoch alles verzaubert. Sie verdeckte den Verfall und gab dem Haus ihr eigenes Gesicht. Es war unvorstellbar, wie eine steinalte Frau hier zwischen den Schatten der Vergangenheit leben sollte, ganz ohne jedes Anzeichen von Leben. Die Wäsche war nun fort. Ob es nur Obdachlose gewesen waren? Vielleicht hatten sie gewusst, dass niemand hier lebte. Die Verandatür war nicht abgeschlossen. Drinnen war es noch stiller, in diesen Zimmern schien die Zeit stillzustehen. Spinnweben zogen sich durch alle Ecken. Der Regen, der durch die zerbrochenen Scheiben hereingeweht worden war, hatte die eleganten und antiken Möbel zerstört. Zerrissene Brokatvorhänge hingen wie tot herunter. Die alte Dame musste wohl inzwischen gestorben sein. Komisch, dass niemand die Möbel gestohlen hatte. Bevor sie vom Wetter so zerstört worden waren, mussten sie wunderschön gewesen sein. Die Dame hatte ihren Besitz anscheinend niemandem weiter vererbt. Aber war Edward etwa noch nie im Haus gewesen, um nach Schmuck und Geld zu suchen? Die Tür musste die ganze Zeit offen gestanden haben. Sie fürchtete, die Obdachlosen hier noch anzutreffen, aber es sah nicht aus, als hätte jemand hier genächtigt. Die Staubschicht auf dem Boden wirkte unberührt. Eine Treppe aus weißem Marmor führte nach oben. Es war recht hell im Haus, da fast alles weiß oder in hellen Farben gehalten war und das Mondlicht reflektierte. Ramis kam sich wie ein Einbrecher vor, als sie die Treppe emporstieg. Doch sie konnte einfach nicht anders.
Das obere Stockwerk bestand aus einem langen Flur mit vielen Türen. Ein paar davon standen weit offen, aber sie waren leer. Nur in einem hing ein großes Gemälde. Auch es war von der Feuchtigkeit leicht beschädigt. Sicher wäre es ganz kaputt gewesen, wären nicht gerade diese Fensterscheiben noch intakt gewesen. Sie waren so schmutzig, dass man nicht mehr hindurchsehen konnte. Ramis betrachtete vorsichtig das Gemälde. Es zeigte eine junge Frau mit schwarzen Haaren, die kunstvoll auf dem Kopf festgesteckt waren. Ein zierliches Diadem hielt die Frisur in Form. Die Frau musste reich sein, sie war sehr erlesen gekleidet, ein Gewand, das sich nicht nach der Mode richtete. Sie hatte noch nie ein Kleid wie dieses gesehen. Das Gemälde konnte noch nicht so alt sein, der Malstil war leicht barock. Ramis kannte sich ein wenig mit der Mode des sich zu Ende neigenden Jahrhunderts aus und sie wusste um die gewaltigen Röcke und wallenden Lockenhaaren der Frauen. Dieses Kleid war aus einem Stück, kein Mieder trennte Rock von Oberteil. Seine Röcke gingen in einer schrägen Linie nach unten und hatten keinerlei Schnickschnack an sich. Es war von einem dunklen violett. Die Augen der Frau waren leuchtend grün, wie die einer Katze. Sie stachen Ramis geradezu ins Herz und verursachten das Gefühl eines großen Schmerzes. Vielleicht kam das durch ihren Ausdruck, deren Schmerz Ramis mitfühlen konnte. Die Frau war unverkennbar melancholisch, von einer Trauer umgeben, die tief aus ihrem Herzen kommen musste. Sie lächelte, aber es war ein Lächeln voller Sehnsucht. Ihr Blick verharrte auf dem Betrachter, als suche sie etwas in ihm. Im Hintergrund war ein See zu sehen, der in seiner wilden Ursprünglichkeit geheimnisvoll wirkte. Kleine Felsen und Bäume umgaben ihn. Weiße Schwäne trieben im Wasser.
Das Bild war für Ramis so lebendig, als stände die Frau vor ihr. Es musste von einem großen Künstler stammen, der so treffend die Gefühle der Frau übermittelte. Sicher war sie längst tot, aber ihr Schmerz lebte hier weiter. Eigentlich schien die Frau ja nicht wirklich traurig, berichtigte Ramis sich, aber sie sah so verträumt und sehnsüchtig nach etwas, das sie nicht bekommen konnte, aus. Unwillkürlich streckte Ramis sich nach oben und berührte das Gesicht der Frau. Wer du wohl bist? Und weshalb bist du so melancholisch? Ramis fiel ein Ring am Finger der Frau auf. Der Stein war so rot wie Blut und erzeugte den Eindruck, dass er funkelte. Er war wunderschön, doch Ramis fand ihn irgendwie bedrohlich. Er verstärkte den Eindruck des Gemäldes, den Ramis gewonnen hatte. Es schien, als könnte jeden Moment eine schwarze Wolke über den noch blauen Sommerhimmel senken und alles in Dunkelheit und Regenschauer hüllen. Nun übertreib mal nicht! ermahnte sie sich. In deinem Wahn siehst du wirklich überall nur Unglück! Es musste dieses Haus sein, das sie schon wieder verrückt machte. Gewiss war sie sehr anfällig für
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