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Dunkle Häfen - Band 1

Dunkle Häfen - Band 1

Titel: Dunkle Häfen - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elin Hirvi
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Haar.
    "Verzeih mir, Tante!" , jammerte er.
    "Ich war doch nicht böse auf dich !" Ramis drückte ihn fest. "Ich war nur so entsetzt. Du musst mir verzeihen, dass ich dir so wenig helfen und dir beistehen kann. Ich schaffe einfach nicht mehr."
    "Warum weinst du?"
    "Was stellst du nur für Fragen?" , schniefte Ramis. "Ich bin traurig - und froh, dass ich dich habe."
    "Ich weine gar nicht mehr. Früher habe ich das, aber jetzt bin ich groß. Ein Mann weint nicht. Und aus Freude sowieso nicht."
    Ramis musste trotz ihrer Verzweiflung lachen.
    "Wieso sollen Erwachsene nicht weinen dürfen? Vielleicht weinen auch Männer - heimlich. Ach, ich weiß es nicht. Aber ich weine auch nicht so oft. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Womöglich werde ich eine von diesen feinen Dämchen, die ständig in Ohnmacht fallen und heulen, wenn sie einmal nicht wie eine Zuckerpuppe behandelt werden."
    "Du nicht, Tante." Er lehnte sich ganz unmännlich an sie. "Niemals. Du bist nämlich meine richtige Mutter."
    "Oh Edward, es macht mich glücklich, dass du das sagst, doch deine Mutter ist Lettice."
    "Ach die. Ihr ist es egal, ob sie meine Mutter ist. Ich bin ihr auch egal."
    Ramis schwieg. Eigentlich sollte sie Lettice verteidigen, aber sie war wütend auf die andere, weil sie zugelassen hatte, dass man sich an Edward vergriff.
    "Ich wünschte, es wäre so. Einst hatte ich auch ein Baby. Es wäre dein Bruder gewesen."
    Sie wären tatsächlich Brüder gewesen. Diese Feststellung brachte sie seltsam aus der Fassung.
    "Wo ist dein Baby jetzt?"
    Ramis lächelte traurig.
    "Im Himmel, hoffe ich. Es ist gestorben."
    "Wie?"
    "Es wurde zu früh geboren."
    Da sie nicht wusste, wie viel Edward über seinen Vater erfahren hatte und welche Gefühle er der Vaterfigur entgegenbrachte, konnte sie ihm schlecht von seiner Beteiligung erzählen. Insgeheim schwor sie sich, dass Edward nie erfahren würde, was für ein Mensch sein Erzeuger gewesen war. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er sich fühlen mochte, denn was hätte sie gemacht, wenn man ihr sagen würde, Sir Edward sei ihr Vater? Sicher hätte sie sich umgebracht.
    Gemeinsam gingen das Kind und seine selbsterwählte Tante zum Gärtnerhaus zurück.
     
    In dieser Nacht schliefen sie eng zusammengedrängt und die Nähe eines warmen Körpers tröstete Ramis. Trotzdem wachte sie mitten in der Nacht auf. Danach konnte sie nicht mehr einschlafen. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Vor ihren Augen waberten die ganze Zeit wilde Muster herum und sie konnte ein Bild nicht aus dem Kopf verbannen. Es war die Erinnerung an eine Irre, die sie einmal in London gesehen hatte. Sie hockte vor einem Haus, das zugleich Armenhaus, Krankenhaus und Irrenhaus war, wie üblich zu ihrer Zeit. Wie sie herausgelangt war, blieb dennoch schleierhaft. Jedenfalls raufte sie sich wild die fettigen Haare und schrie die Passanten an oder kreischte schrill. Sie lebte in einer anderen Welt und sah alles andere nur noch durch ihren Wahn. Ihre dürren Arme streckten sich mal flehend, mal krallend nach den Menschen aus, die einen großen Bogen um sie machten. Ob ihr das auffiel, wusste niemand. Sicher lebte auch in ihr noch die Sehnsucht nach etwas, das ihr eine neue Ordnung und Sicherheit gab. Aber für sie würde es keine Rettung geben. Ein anderes Mal hatte Ramis beobachtet, wie ein Mann ins Haus geschleift wurde. Er heulte wie ein Kind und schrie immerzu einen Namen. Der Zustand dieser armen Seelen hatte Ramis in tiefe Verwirrung gestürzt und ihr Innerstes erschüttert. Niemals durfte sie so werden.
    Ihr war unmöglich, jetzt noch zu schlafen. Deshalb stand sie auf. Edward schlummerte tief und fest. Ramis strich ihm vorsichtig über das entspannte Kindergesicht. Dann ging sie hinaus. Im Garten war es stockdunkel, das Mondlicht kam nicht durch die Bäume hindurch. Sie blickte zum Haus hinüber. Es war von silbernem Licht überflutet. So wunderschön! stellte Ramis fest. Dieses Licht musste überirdisch sein. Langsam schritt sie auf das Haus zu. Es schien sie zu rufen und willkommen zu heißen. Das Gras um ihre Füße war feucht und durchweichte ihre Schuhe. Die Wiese war hoch, sie ging ihr fast bis zur Hüfte. Auch ihr Rock wurde schwer vor Nässe. Die Tropfen glitzerten im matten Licht. Aus der Nähe erschien das Haus ihr noch gespenstischer und verlassener. Eine morsche Hundehütte stand bei der Tür in den Garten. Darin war sicher seit Jahrzehnten kein Hund mehr gewesen und das war ein trauriges Zeugnis von dem einst munteren

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