Dunkle Häfen - Band 1
Rande.
Mitte Juli wurde die Hitze geradezu drückend. Die Straßen stanken nach dem Schmutz im Rinnstein, den nur tagelanger Regen würde fortspülen können. Wegen der langen Tage konnte Ramis noch länger vom Goldenen Drachen fortbleiben. Das tat sie auch und saß lieber bei Liam im spärlichen Schatten seines Standes als in ihrer stickigen Dachkammer, die ihr vorkam wie ein Gefängnis. Sie verließ sie nur, um aus dem Haus zu kommen. Vielleicht lag das zum einen auch an der Fremdheit, mit der ihr die anderen Frauen immer noch begegneten. Zum anderen fürchtete sie, dass ihr ein männliches Wesen über den Weg laufen könnte. Als sie sich eines Abends von Liam verabschiedete, dunkelte es bereits, eine Zeit, die Ramis normalerweise vermied. Es hatte sie jedoch noch ein Kunde aufgehalten, der einen Brief an einen hochrangigen Adligen schreiben musste und dafür Ramis Hilfe beanspruchte. Ramis suchte ihre Kenntnisse über Höflichkeitsfloskeln zusammen, die sie nie nötig gehabt hatte. Sie wollte ihn fragen, weshalb er mit seinem Problem zu ihr kam, zu ihr, von der man in zweifacher Hinsicht keine hohe Bildung erwartete. Schließlich gehörte sie der unteren Schicht an und war zudem noch eine Frau. Doch sie konnte es sich nicht leisten, einen Kunden zu verlieren und so biss sie sich durch den Text.
Nachdem sie den Kunden bedient hatte, rief sie wie gewöhnlich Liam einen Gruß zu, der nun auch sein Zeug zusammenpackte und machte sich auf den Heimweg. Sie beeilte sich gehörig, denn es wurde zusehends dunkler und die Straßen unsicherer. Seltsamerweise war heute alles wie ausgestorben. So sehr sie auch überlegte, es fiel ihr kein Ereignis ein, das diesen Tag zu einem besonderen gemacht hätte. Außerdem hätte sie es gehört, wenn es in der Stadt eine Feier geben würde. Je näher sie der Straße kam, in der das Bordell lag, desto mehr stach ihr ein beißender Geruch in der Nase. Rauch, ergründeten ihre Geschmacksnerven. Aber woher? Niemand heizte mitten im Sommer und vor allem bei dieser Hitze sein Haus! Der Rauch wurde immer intensiver. Schließlich wurde Ramis misstrauisch. Es ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Es musste ein Brand sein! Der Gedanke erschreckte sie, denn sie war jetzt schon recht nahe am Goldenen Drachen . Wenn ein Haus in der Nähe brannte, konnte das Feuer kinderleicht auf die Nachbarhäuser übergreifen, denn alles war trocken. Und Edward musste im Haus sein! Er war früher als sie heimgegangen... Würden die anderen Frauen auch auf Lettice aufpassen? Ihre alte Bekannte war in letzter Zeit dauernd in einem unzurechnungsfähigen Zustand, der von zu viel Alkohol herrührte. Wenn sie nicht arbeitete, lag sie hingestreckt auf ihrem Bett und griff nur ab zu zur Flasche, von denen sie täglich mehr benötigte. Ramis kümmerte sich um sie und musste sie manchmal sogar auch noch waschen, wenn Lettice dazu mal wieder nicht fähig war.
Ramis rannte los, als ihr klar wurde, in welcher Gefahr ihre Schutzbefohlenen schwebten. Als sie jedoch um die Ecke bog und das Bordell in Sicht kam, bot sich ihr ein noch schrecklicherer Anblick. Es war das Haus selbst, das brannte! Flammen schlugen aus den Fenstern der oberen Stockwerke. Während Ramis nahte, rückte langsam eine weitere Gefahr in ihr Gesichtsfeld. Vor der Tür herrschte reges Treiben. Ramis entdeckte mehrere Männer. Was machen die denn da? Mit einem Schlag erkannte sie es. Die Kerle blockierten die Tür. Sie ließen die Frauen nicht heraus! Ramis schlug sich die Hand vor den Mund. Einige weitere Männer knieten am Boden und hielten eine der Frauen fest, während sie sie vergewaltigten. Ramis biss sich auf die Faust, um nicht zu schreien, was man bei dem Lärm sowieso nicht gehört hätte. Über das Tosen des Feuers und das Krachen von Holz vernahm sie die Schreie von Frauen und die Rufe der Männer.
"Sag, dass das nicht wahr ist!" , krächzte Ramis fassungslos.
Es war schlimmer als eine Szene aus einem Albtraum. In einem ersten Impuls wollte sie auf das Haus zu rennen, aber dann gewahrte sie wieder die Männer. Gerade fingen sie eine weitere Frau ab, die panisch nach draußen wollte. Es war Polly, die unverzagte Frau mit der großen Familie. Ramis verbot sich, weiter darüber nachzudenken, den sie wusste, dass sie gar nichts ausrichten konnte. Dennoch erfüllte sie eine rasende Wut. Aber jetzt musste sie vor allem an Edward denken. Sie versuchte es am Hintereingang. Er war ebenfalls bewacht. Ramis hastete unauffällig zum Küchenfenster. Dieses
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