Dunkle Häfen - Band 2
jemand anders die Nachricht fand... Ihr brach der kalte Schweiß aus. Anstatt dass sich das Rätsel um ihre Vergangenheit aufklären ließ, wurde es immer undurchsichtiger und zog immer weitere Kreise.
Ramis holte ihr Amulett hervor und musterte die Eingravierungen, die sie schon in und auswendig kannte. Vorsichtig strich sie über das Gebilde, das das Wappen ihrer ausgelöschten Familie war, wie sie jetzt wusste. König Louis hatte die ganze Zeit über sie Bescheid gewusst. Aber er schien Gründe gehabt zu haben, sie zu schützen. Was war hier nur los? Der Sonnenkönig war tot, aber ihr eigener Mann war Mitwisser einer Sache, von der sie keine Ahnung hatte. Ja, und ganz nebenbei hatte er den Auftrag bekommen, sie auszuspionieren. Wenn es so heikel war, warum hatte man keine Aussage von ihr erpresst oder sie in einem dunklen Eck verschwinden lassen? Sie verstand nur, dass sie in noch größere Schwierigkeiten geraten war, als sie ohnehin schon hatte. Als sie das Zimmer verließ, achtete sie darauf, dass es genauso aussah wie vorher und nahm den Schlüssel mit sich. Doch wie den unverschämten Jean zum Schweigen bringen? Sie begab sich mit einem Buch aus der Bibliothek in den Salon und versuchte zu lesen, allerdings war es unmöglich, sich zu konzentrieren. Guillaume würde noch einige Tage verreist sein und das beruhigte sie. Außerdem hatte sie das Haus für sich allein, wenn man vom Personal absah. Während Guillaumes Abwesenheit blieb sie dem Hof fern und man vermisste sie auch nicht, weil sie erst später zurückerwartet wurde. Auch der Marquis besuchte sie nicht. Bald erfuhr sie, dass er verreist war. Sie versuchte sich eine gemütliche Zeit zu machen, aber zu viele Gedanken beschäftigten sie. Hatte inzwischen auch Philipe d'Orléans Wind von der faulen Sache bekommen? Es würde sein Misstrauen nur bestätigen.
Tagebuch
April 1716, Paris
Vom Herzog d' Orléans erhielt ich bald Nachricht. Er hatte erfahren, dass ich wieder in Paris war und lud mich zu einem seiner kostspieligen Feste am Abend ein, was soviel hieß wie dass ich zu kommen hatte. Abgesehen davon, dass ich es falsch fand, in einer Zeit der drückenden Staatschulden derart viel Geld auszugeben, hatte ich auch wenig Lust, dorthin zu gehen. Immerhin änderte sich die Mode langsam und wurde bequemer. Als es auf den Abend zuging, rief ich also nach Henriette und ließ mir mein neues Kleid bringen. Meine Schneiderin hatte es geradezu revolutionär gefunden, da ich auf einigen Details bestanden hatte, die mir das Tragen angenehmer machten, außerdem musste es nach dem neuen Schnitt gefertigt werden.
Mit einer ihrer weißen Perücken bewaffnet war die Herzogin de Sourges endlich gesellschaftsfähig. Als ich mein Profil im Spiegel betrachtete, stellte ich fest, dass ich zugenommen hatte. Als jemand, der oft Hunger gehabt hatte, neigte ich zu unkontrolliertem Schlingen, ein Instinkt, der mir nun Probleme bereitete. Seit ich meine Magerkeit verloren hatte, waren aber auch weiblichere Formen zur Geltung gekommen. Ich überlegte, dass man einen hungrigen Menschen auch an dem gierigen Glitzern in seinen Augen erkennt, er gewöhnt sich daran, immer mehr zu wollen. Tja, ging es mir unvermittelt durch den Kopf, keiner entschließt sich wegen der Entbehrungen, Pirat zu werden, es sei denn er ist noch verrückter als ich.
"Henriette, kannst du mir meine Perlenkette mit den Smaragden bringen?"
"Sofort, Herrin."
Als sie jedoch zurückkam, waren ihre Hände leer.
"Verzeiht, Herrin, ich kann sie nicht finden. Ich habe wirklich überall gesucht - vergebens. Dabei habe ich sie sicher in das Kästchen gelegt!"
Ich glaubte ihr. Henriette war die Ordnung in Person und nahm ihre Arbeit sehr ernst, sie hätte nie eine derart wertvolle Kette woanders hingelegt als an ihren Platz. War sie gestohlen worden? Der Verdacht drängte sich auf, obwohl eigentlich keiner außer Henriette oder mir selbst an den Schmuck gelangte. Leider hatte ich jetzt keine Zeit mehr, mich weiter damit zu beschäftigen, ich musste in Kürze im Palais sein und so ließ ich es vorerst auf sich beruhen. Meine Kutsche wartete schon.
Während ich so die Leute in der Straße von meinem sicheren Platz in der Kutsche aus betrachtete, dachte ich mir, dass ich all die Jahre irgendwie gehofft hatte, dass meine Eltern noch lebten, obwohl ich innerlich genau wusste, dass dem nicht so war. Nun hatte ich die Gewissheit. Als ich noch in Maple House gewohnt hatte, hatte ich mich oft mit der Vorstellung
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