Dunkle Häfen - Band 2
Schicksal, mein Freund. Ich beginne von Anfang an.
Vor etwa drei Jahren gab es hier in London einen Markt, der andere Waren als gewöhnlich verkaufte. Man verkaufte dort Menschen, arme Kreaturen, die jemand von der Straße aufgelesen hatte. Runzel nicht deine Stirn, ich weiß du missbilligst meine Laster. Aber weißt du, was dadurch passierte? Francis brachte mir eine schmutzige Göre mit, verdreckt und vollkommen verrückt. Ohne Zweifel, ihr war etwas Schlimmes zugestoßen. Anfangs interessierte mich das nicht, sie schien ein seelenloses Geschöpf zu sein, wie es sie zu Tausenden in Londons Drecklöchern gibt. Ich war ärgerlich, dass Francis ein so ungeeignetes Mädchen angeschleppt hatte, aber gut, sie blieb als Näherin. Ich weiß nicht, wann sie mir aufgefallen ist. Sie schien nicht in dieser Welt zu leben. Die anderen Diener hassten sie, auch unser guter alter Francis, der sich dauernd über sie beschwerte. Dadurch fiel sie mir erst auf. Sie hatte offensichtlich mehr Rückgrat als angenommen. Ich wollte sie, das gebe ich ganz offen zu.
Ich nahm sie mit nach Kensington Palace - betrachte es als unverschämte Laune. Sie hatte zudem eine gute Erziehung genossen, wie ich feststellte. In dieser Nacht erkannte ich, wer sie ist. In einem Kleid meiner Tochter und geschminkt ähnelte sie ihrer Mutter so sehr, dass man es kaum noch übersehen konnte . Und das Amulett, das sie stets um ihren Hals trägt, zeigt das Wappen ihrer Familie.
Oh ja, es ist die kleine Lianna, das Kind, das wir tot sehen wollten und deren Leiche nie aufgetaucht ist. Sie selbst scheint sich an gar nichts zu erinnern, jedenfalls zeigte sie nie irgendwelche Anzeichen...
Hier war der Rand verkohlt und der Rest unleserlich. Es existierte jedoch noch ein weiterer Brief, den James bei sich gefunden hatte. Er hatte ihn als Notizzettel für ein paar Ideen benutzt, die ihm im Zimmer seines Vater s eingefallen waren. Damals hatte er mit dem Inhalt nicht viel angefangen, er hatte ihn bald vergessen. Sein Vater schien ihn nie vermisst zu haben.
Du rätst mir sicher zu Recht, dieses Mädchen loszuwerden. Sie kann uns gefährlich sein, aber wie sollte sie das, solange sie nichts weiß? Keiner ahnt, dass sie am Leben ist. Wozu die Kleine töten? Sie hasst mich, ja, das sehe ich, doch was soll sie schon machen? Sie wird ohnehin bald sterben, denn sie siecht dahin. Sie hatte eine Fehlgeburt. Mein Sohn. Er ist tot. Er hätte der Erbe sein können, den Harriet nicht gebären konnte, er wäre von edlem Geblüt gewesen. Du kennst ja ihre Familie. Es tut mir leid, Robert, ich kann mich nicht von diesem Mädchen trennen. Wie die Mutter, so die Tochter. Sie ist ein verfluchtes Feenkind, diese irische Hexe...
Ich würde gerne sagen: Gott schütze dich, mein Freund. Doch bei mir klänge das wie eine leere Phrase. Die Macht war immer mein einziger Gott. Deshalb werde ich in eine noch tiefere Hölle kommen als du. Aber vergiss niemals, du bist mein wahrer Freund und nur dich liebe ich. Du bist der Einzige, den ich nie verraten würde.
In unerschütterlicher Treue,
Dein Edward
PS: Richte deinem herzigen James schöne Grüße von mir aus. Wenn er will, kann er uns bald wieder in Maple House besuchen kommen.
Kurze Zeit, nachdem dieser Brief geschrieben wurde, war Sir Edward tot. Lord Fayford erinnerte sich gut an den Tag, als man seinem Vater die Nachricht überbrachte. Der war außer sich vor Wut und Schmerz gewesen und hatte geschworen, die Mörderin zu erwischen und für alles büßen zu lassen. Dabei schien eher diesem kleinen Mädchen Unrecht zugefügt worden zu sein, stellte Fayford nüchtern fest, ohne aber Mitleid zu empfinden. Konnte man nicht bei jedem Verbrecher eine rührselige Geschichte aus seiner Vergangenheit hervorziehen? Seine eigenen Verbrechen entschuldigte das jedoch keineswegs. Allerdings hatte er nun viel mehr über das Leben der Piratin herausgefunden. Die ganze Angelegenheit glich einem unglaublichen Puzzle und es verhielt sich offensichtlich so, dass die beiden verstorbenen Freunde eine bestimmende Rolle darin gespielt hatten. Die Piratin stammte aus einer adligen Familie, die man ermordet hatte. Aus welchen Gründen, wusste James nicht, doch das ließe sich sicher aufdecken. Nach der Ansicht seines Vaters war sie schon damals sehr gefährlich gewesen, ob durch ihre eigene Person oder ihre Herkunft. Zumindest für Edward war sie tödlich gewesen. Das misshandelte Kind musste irgendwann durchgedreht sein - oder wollte sie sich für
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