Dunkle Herzen
und Redefreiheit für ebenso wichtig wie das tägliche Brot, und dennoch fühlte sie sich jedesmal, wenn sie einen der Bände aufschlug, irgendwie beschmutzt. Sie krümmte sich innerlich, wenn sie zu lesen begann, aber trotzdem las sie weiter, voller Schuldgefühle, Scham und Kummer, so, wie es ihrem Vater bei dieser Lektüre ergangen sein mochte.
Er war auf der Suche gewesen, dachte sie. Jack Kimball war ein aufgeschlossener, vorurteilsloser Mann mit einem grenzenlosen Wissensdurst gewesen, stets bereit, den Status quo in Frage zu stellen. Vielleicht glich sein plötzlich erwachtes Interesse am Satanskult seiner ebenso plötzlich erfolgten Hinwendung zur Politik, zur Kunst oder zum Gartenbau.
Eine Weile saß Clare einfach nur rauchend da, dann linderte sie das Kratzen in ihrem Hals mit reinem, kalten Leitungswasser und wünschte, sie könnte ihr Herz genauso leicht überzeugen wie ihren Verstand.
Der Vater hatte sich schon immer leicht für etwas begeistern lassen, liebte die Herausforderung und war immer bereit, neue Wege zu gehen. Ein Rebell, dachte sie liebevoll, ein Rebell, der fest entschlossen gewesen war, die Ketten zu sprengen, in die ihn seine Eltern, strenggläubige Katholiken, hatten legen wollen.
Wie oft hatte er Blair und ihr erzählt, daß er während der Fastenzeit jeden Tag im Morgengrauen aufstehen mußte, um noch vor der Schule die Frühmesse zu besuchen – wo er
dann regelmäßig während der Predigt eingenickt war, bis ihn seine Mutter mit einem Rippenstoß aufweckte. Er verfügte über einen schier unerschöpflichen Vorrat von Anekdoten aus der Klosterschule, von denen einige durchaus amüsant, andere eher erschreckend waren. Auch hatte er ihnen erzählt, wie enttäuscht und verletzt seine Eltern gewesen waren, als er sich weigerte, Priester zu werden. Lachend hatte er beschrieben, daß seine Mutter der Heiligen Jungfrau Unmengen von Kerzen gestiftet hatte, um sie dazu zu bewegen, ihren Sohn auf den rechten Weg zurückzuführen und ihn seine wahre Berufung erkennen zu lassen. Doch immer hatte sich eine Spur Bitterkeit in dieses Lachen geschlichen.
Clare hatte oft Gespräche belauscht, die nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen waren. So erfuhr sie, daß seine Eltern, obwohl die Liebe zwischen ihnen längst erloschen war, trotzdem noch weiter zusammen unter einem Dach gelebt und ein Bett geteilt hatten, Jahr für Jahr, und daß sie oft ihren Sohn benutzten, um ihr ganzes Elend auf ihn abzuwälzen. Denn in den Augen der Kirche existierte die Möglichkeit einer Scheidung nicht, und Jack Kimballs Eltern sahen die Welt nur durch die Augen der Kirche.
»Lieber im Unglück leben als in Sünde«, zitierte er oft angewidert. »Himmel, was waren das nur für Heuchler.«
Zum Zeitpunkt seiner Heirat hatte sich Jack vollkommen von der Kirche abgewandt.
Nur um ungefähr zehn Jahre später reumütig in ihren Schoß zurückzukehren und sich fast so fanatisch an seinen Glauben zu klammern wie seine Eltern, dachte Clare jetzt. Und noch ein paar Jahre später hatte er dann zur Flasche gegriffen.
Warum?
Lag die Antwort in einem der Bücher verborgen, die sie auf ihrem Bett verstreut hatte?
Sie wollte es nicht glauben, wollte es nicht akzeptieren. Der Vater, den sie gekannt hatte, war ein verläßlicher, ehrgeiziger und umgänglicher Mensch gewesen. Wie konnte ein Mann, der Blumen so liebte wie Jack Kimball, sich einer
Sekte anschließen, die sich dem Opfern von Tieren und dem Vergießen unschuldigen Blutes verschrieben hatte?
Es war ihr unbegreiflich.
Aber da war noch der Traum, jener Alptraum, der sie seit ihrer Kindheit plagte. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, um ihren Vater vor sich zu sehen, wie er mit glasigem Blick nackt um eine Feuerstelle tanzte, während Blut von seinen Fingern tropfte.
Das war ein typisches Symptom, redete Clare sich ein und begann hastig, die Bücher aufeinanderzustapeln. Dr. Janowski hatte ihr wieder und wieder auseinandergesetzt, daß sie den Tod ihres Vaters nie verwunden hatte und sie nicht akzeptieren konnte, daß der Traum lediglich eine Wiederaufarbeitung des Kummers und des Verlustes darstellte.
Aber als sie das Licht ausschaltete und schlaflos im Dunkeln lag, kam ihr zu Bewußtsein, daß der Traum sie schon lange vor dem Tod ihres Vaters das erste Mal heimgesucht hatte.
Sechstes Kapitel
Gegen zehn Uhr war ganz Emmitsboro auf den Beinen. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, Kinder rissen sich von ihren genervten Eltern los, Teenager flanierten
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