Dunkle Herzen
dem Schreibtisch aus. Cam sah sie sich genau an, eines nach dem anderen. Einige kannte er bereits, er hatte sie in Biffs Arbeitszimmer oder in der Bücherei gesehen. Während er die Sammlung betrachtete, zündete Clare sich eine Zigarette an.
Die Bücher waren alt und offensichtlich häufig gelesen worden. Viele Seiten wiesen Kaffee- oder Whiskeyflecken auf, oft waren einzelne Passagen unterstrichen oder bestimmte Stellen mit Eselsohren gekennzeichnet worden.
»Wo hast du die her?«
Clare stieß eine Rauchwolke aus. »Sie haben meinem Vater gehört.«
Die Augen fest auf sie gerichtet, schob Cam die Bände beiseite. »Setz dich doch und erklär mir die Zusammenhänge.«
»Ich bleibe stehen und erkläre dir alles.« Wieder sog sie hektisch an ihrer Zigarette. »Ich habe die Bücher oben im Dachgeschoß gefunden, in dem ehemaligen Büro meines Vaters. Ich weiß nicht, ob du das begreifen kannst, aber meinen Vater faszinierte die Religion. Jegliche Religion. Er besaß auch Bücher über den Islam und den Hinduismus und eine ganze Reihe Abhandlungen über katholische Bräuche – alles, was du dir vorstellen kannst. Blair ließ sich allerdings nicht davon abbringen, daß ich dir diese Bücher zeigen sollte.«
»Da hat er recht.«
»Tut mir leid, ich sehe das anders.« Sie drückte die Zigarette so heftig aus, daß sie entzweibrach. »Aber da Blair fest entschlossen schien, keine Ruhe zu geben, versprach ich ihm, es zu tun. Und das habe ich ja jetzt erledigt.«
»Setz dich, Slim.«
»Ich bin nicht in der Stimmung, mich verhören zu lassen. Ich hab’ dir die Bücher gebracht, jetzt mach daraus, was du willst.«
Schweigend musterte Cam sie. Ihre Augen flackerten, und ihr Mund begann leicht zu zittern. Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum zu ihr hin. Als sie stocksteif stehenblieb, legte er die Arme um sie.
»Ich weiß, daß es nicht leicht für dich ist.«
»Das kannst du überhaupt nicht wissen.«
»Wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich dir jetzt sagen, du sollst die Bücher wieder mitnehmen, und wir tun so, als würden sie gar nicht existieren.« Er gab sie frei. »Leider habe ich diese Wahl nicht.«
»Vater war ein guter Mensch. Ich mußte schon einmal mitanhören, wie die Leute furchtbare Sachen über ihn erzählten, und ich glaube nicht, daß ich es ein zweitesmal ertragen kann.«
»Ich werde alles mir Mögliche tun, mehr kann ich nicht versprechen.«
»Ich verlange ja nur, daß du wenigstens versuchst, ihn zu verstehen. Begreif doch: Er war kein schlechter Mensch, nur weil er diese Bücher besessen und gelesen, ja, vielleicht sogar einige Sachen geglaubt hat.«
»Dann laß mich versuchen, das zu beweisen. Setz dich bitte.«
Sie tat wie ihr geheißen und faltete die Hände im Schoß.
»Clare, hat er jemals mit dir über diese Bücher oder deren Inhalt gesprochen?«
»Nein, niemals. Er sprach viel über Religion. Es war sein Lieblingsthema, besonders nachdem … nachdem er begonnen hatte zu trinken. Er ist wieder in die Kirche eingetreten, obwohl er aufgrund seiner erzkatholischen Erziehung diese starr durchorganisierte Religion eigentlich ablehnte.«
»Wann trat er wieder in die Kirche ein?«
»Als ich so sieben oder acht Jahre alt war. Auf einmal wurden all diese Dinge wieder sehr wichtig für ihn. Das Ende vom Lied war, daß Blair und ich den Kommunionsunterricht
besuchten und schließlich zur Kommunion gingen. Die ganze Prozedur eben.«
»Das muß ungefähr zwanzig Jahre her sein.«
»Ja.« Sie lächelte schwach. »Die Zeit vergeht.«
Cam machte sich Notizen, wobei er im stillen überlegte, wie die Stückchen des Puzzles wohl zusammenpaßten. »Hast du dich einmal gefragt, woher dieser plötzliche Sinneswandel kam?«
»Natürlich. Anfangs war ich noch zu jung, um mir darüber Gedanken zu machen. Mir gefiel einfach die Messe, die Musik, die Kleidung der Priester, eben das ganze Ritual.« Abrupt brach sie ab, da sie mit ihrer Wortwahl selbst nicht einverstanden war. »Später habe ich dann angenommen, daß er schlichtweg älter und reifer geworden war und etwas Abstand zu den Dingen, gegen die er in seiner Jugend rebelliert hat, gewonnen hatte und daß er die Sicherheit und die Vertrautheit vermißte, die ihm die Religion einst vermittelt hat. Er muß damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein«, murmelte sie. »Um die Dreißig. Da begann er, sich zu fragen, wie der Rest seines Lebens wohl verlaufen würde. Außerdem machte er sich Sorgen um Blair und mich, weil wir
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