Dunkle Spiegel
zuhause. Nachdem Sie mich gestern abgesetzt hatten, habe ich mir die Akte noch einmal genau vorgenommen. Anfangs konnte ich mithilfe des PC in Ihrem Büro noch einige Informationen bekommen, die ich zwar so schon vermutet hatte und die sich dann auch einfach bestätigt hatten. Nach einer Weile nahm das Ganze aber immer größere Ausmaße an bezüglich der zu verarbeitenden Daten. Mein einfacher Computer reichte nicht mehr aus. Also holte ich mir die Erlaubnis, mich hier ein wenig einzunisten und es mir etwas wohnlicher zu machen.”
Ich musste lächeln. “Wohnlicher? Das hier sieht eher nach einer Szene aus einem Thriller aus. Wenn ich nicht wüsste, dass Sie auf unserer Seite stehen, würden Sie mir jetzt schon etwas verdächtig vorkommen!”
In diesem Moment ertönte wieder das Knarren. Ramirez schlurfte heran und hatte zwei Tassen Kaffee dabei. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu und nahm eine Tasse entgegen.
“Also,” begann Chapler und rückte den Stuhl etwas zurück, so dass wir in einer Art Halbkreis saßen. “Sie haben, nehme ich an, gestern im privaten Umfeld von Adriana Lion ein bisschen herumgestöbert, oder? Kam dabei etwas Besonderes heraus?”
“Wir waren in der Rechtsanwaltskanzlei, wo sie gearbeitet hatte, haben mit ihren Vorgesetzten und Kollegen gesprochen, ihre direkten Nachbarn befragt und auch einen Freund besucht, der offenbar etwas mehr von ihr wollte. Aber etwas wirklich Neues hat sich daraus eigentlich nicht ergeben. Überall wird sie als freundlich, umgänglich, höflich und humorvoll beschrieben. Es gab nichtsNegatives in der Art, als dass man wirklich hätte hellhörig werden können. Keine Vorstrafen, keine Handgreiflichkeiten, keine Streitereien.”
“Aber der Freund …” raunte Ramirez zwischen zwei Schlucken.
“Ja, den werden wir uns noch einmal etwas genauer ansehen müssen.” stimmte ich zu. “Der hat uns übrigens doch noch etwas Interessantes erzählt.”
“Ach ja? Was denn?” fragte Chapler in einem Ton, als würde er die Antwort schon kennen - wie bei seinem Computer?
“Nun, offenbar hatte die junge Dame eine Vorliebe für das Internet. Ganz speziell schien sie gerne zu chatten. Und dabei handelt es sich offenbar um sehr spezielle, themenbezogene Chats, die diesem jungen Mann jedoch weniger zugesagt hatten. Jedenfalls hat er sie in diesem Augenblick von einer anderen Seite kennengelernt - und er ist offenbar der einzige, der sie so kannte.”
“Das zweite Gesicht.” Chapler nickte leicht und sah wieder gedankenverloren auf den blauen Bildschirm, wo der Cursor weiter vor sich hin blinkte. Nach einer Pause meinte er: “Das alles passt zusammen. Ich habe mir, wie gesagt, die Akte noch einmal vorgenommen. Ich habe die junge Frau einfach mal “gegoogelt”, also ihren Namen unter Google, einer Internetsuchmaschine, eingegeben und beobachtet, was passiert.”
“Und? Was konnte man dort über sie finden … bei Google ?”
“Adriana Lion hatte durchaus zwei Gesichter. Zum einen war sie in der Vergangenheit eine begabte Schülerin gewesen, sogar Schulsprecherin, hatte auf der Universität nur hohe Anerkennung für ihre Leistung erfahren. Sie war nebenbei im Debatier-Club, gehörte einer Anti-Rassismus-Gruppe an, und half sogar neben ihrem Beruf regelmäßig bei Spendenaktionen! In der Öffentlichkeit war sie also ein wahrer Engel. Eine Person, wie man sie nur mögen konnte, keine Frage.”
An dieser Stelle machte er eine verheißungsvolle Pause und ließ seinen Blick zwischen uns hin und her wandern. Dann sagte er fast im Flüsterton: “Und dann gab es noch … ihr zweites Gesicht, von dem so gut wie niemand etwas wusste. Ich behaupte, dass am allerwenigsten ihre Eltern auf den Gedanken kämen, welche Interessen ihre Tochter denn so hatte.”
“Sie machen es aber spannend. Aber eines wissen wir ja schon von diesem Freund. Dieser Chat. Er hat uns auch die Adresse gegeben. Es scheint sich um keinen dieser normalen Chats zu handeln, sondern um eine Art … Sexchat, wenn ich das richtig verstanden habe.” Ramirez kramte in seiner Tasche, und hielt schließlich ein gefaltetes Stück Papier in der Hand. Er gab es Chapler. Der schaute nur kurz darauf und nickte.
“Passt.” murmelte er.
“O.K. Ich habe mir den Computer von Adriana Lion mitgenommen, um zu sehen, was ich an Daten rekonstruieren könnte. Und ich hatte Glück. Ich fand versteckte Überreste von Seiten, die sie mit schöner Regelmäßigkeit besucht hat. Und sie hat bevorzugt mit anderen
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