Dunkle Umarmung
Zimmer kommst.« Er senkte seinen dunklen Schopf, um ihren Nacken zu küssen.
»Nein, Tony.« Mama stieß ihn von sich. »Ich habe es dir doch gesagt, nicht, ehe wir miteinander verheiratet sind. Und außerdem habe ich morgen in Boston einiges zu erledigen. Wir können heute nacht nicht hierbleiben, und das ist mein letztes Wort. Jetzt mach keine Schwierigkeiten.«
»Also, meinetwegen«, sagte er kopfschüttelnd. »Aber du quälst mich… und das auch noch beim Erntedankfest«, scherzte er, aber ich hatte den Eindruck, daß das nur zum Teil ein Scherz war. Ich hatte ein seltsames Gefühl in der Magengrube und fand es scheußlich von mir, sie so heimlich zu beobachten, aber ich konnte es nicht lassen. Als sie sich gerade umdrehen wollten, um sich den anderen wieder anzuschließen, ertappte Tony mich, wie ich durch die Tür von Troys Spielzimmer lugte. Einen Moment lang bohrten sich seine Augen in meine, und ich kam mir vor, als hätte er mein Haar oder den hauchdünnen Stoff meines Kleides gestreichelt.
Ich setzte mich noch etwa eine halbe Stunde zu Troy, und dann kam Mama, um mich zu holen.
»Es ist Zeit, daß wir nach Boston zurückfahren.«
Der kleine Troy schnitt eine Grimasse. »Wann wirst du endlich für immer hierbleiben?«
»Das dauert jetzt nicht mehr lange, Troy«, sagte Mama zu ihm. »Es ist schon spät, und du solltest jetzt ohnehin ins Bett gehen.«
»Ich bin nicht müde«, jammerte er.
»Diese Entscheidung liegt nicht bei dir«, sagte sie. »Du warst krank und brauchst noch viel Ruhe. Komm schon, Leigh.« Sie wandte sich ab und verschwand eilig.
»Ich bin bald wieder da, und dann malen wir alle Zeichnungen fertig aus«, sagte ich zu ihm. Er ließ sich dadurch nicht beschwichtigen, aber der schmollende Ausdruck verschwand von seinem Gesicht, als ich ihm zum Abschied einen Kuß auf die Wange gab.
Ich traf Mama und Tony in der Eingangshalle. Die meisten Gäste waren schon aufgebrochen.
»Danke, daß du dich heute abend mit Troy beschäftigt hast, Leigh«, sagte Tony. »Er ist begeistert von dir.«
»Er ist sehr begabt.«
»Ja.« Tonys Lippen verzogen sich zu einem belustigten Lächeln. »Es wird nicht mehr lange dauern, und er wird neue Tatterton Toys entwerfen.« Er stellte sich dicht genug vor mich, um mich auf die Stirn zu küssen. »Gute Nacht, Leigh«, sagte er und ließ seine Hand auf meiner Schulter liegen. Ich spürte, daß ich zitterte. Wie sollte es mir je gelingen, einen so gutaussehenden jungen Mann als meinen Stiefvater anzusehen?
»Gute Nacht«, murmelte ich und trat eilig durch die Tür.
Mama blieb zurück und flüsterte noch einen Moment lang mit Tony. Dann küßte er sie zart auf die Lippen, und sie wandte sich um und kam zu mir. Wir stiegen die Stufen hinunter, und ich begriff, daß das hier schon sehr bald mein neues Zuhause war, und doch erschien mir alles so fremd. Es gab so viele leere Räume, so viele dunkle Schatten. Ich fragte mich, ob ich einen solchen Ort je als mein Heim ansehen könnte.
Anscheinend empfand Mama nichts dergleichen. Sie war übersprudelnd und aufgeregt.
»War das nicht das wunderbarste Erntedankfest, das du je erlebt hast? All diese Menschen… diese wundervollen Speisen. Hast du den Schmuck gesehen, den Lillian Rumford getragen hat?«
»Ich kann mich nicht erinnern, wer das war, Mama.«
»Du erinnerst dich nicht? O Leigh, wie kann es nur sein, daß dir dieses diamantene Diadem, diese Armbänder und diese Brosche entgangen sind?«
»Ich weiß es nicht. Sie sind mir wohl nicht aufgefallen«, gab ich zurück. Sie erkannte die Traurigkeit in meiner Stimme, und ihr Lächeln schwand. Das freute mich auf eine ganz gehässige Art. Ganz plötzlich war mein Herz gefühllos gegen sie geworden – gegen meine wunderschöne Mutter und ihre Sehnsucht, ihren Spaß zu haben und einen reichen, gutaussehenden Mann zu heiraten.
Ich wollte nicht mehr mit ihr reden. Ich wandte mich ab und sah durchs Fenster in die Nacht. Sie schwieg ebenfalls eine Zeitlang, und dann fing sie an, vor sich hin zu schnattern –
über die Kleider, die die anderen Frauen getragen hatten, über die fantastischen Dinge, die man ihr gesagt hatte, darüber, wie sehr Tony sie anbetete und daß ihre Hochzeit zum Stadtgespräch werden würde…
Ich hörte ihr kaum zu. Es kam ein Einschnitt in der Landschaft, und wir konnten das Meer sehen. Es war eine klare, kalte Nacht.
In weiter Ferne sah ich die kleinen Lichter eines Schiffs und dachte an Daddy, der jetzt irgendwo dort draußen in der
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