Dunkle Visionen
Daumen im Mund auf der Schwelle zu Madisons Schlafzimmer.
Madison wurde von Schuldgefühlen überschwemmt. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen, aber sie fühlte sich dennoch schuldig. Sie hatte versucht, aus ihrer Scheidung das Beste zu machen, aber Carrie Anne tat ihr dennoch Leid. Die Kleine vergötterte ihren Vater, und die Situation jetzt bereitete ihr einfach … Unbehagen.
„Hallo, Schätzchen, komm rein!“ sagte Madison und machte sich von Kyle frei.
Kyle erhob sich von der Bettkante. „Hi, Krümel.“
Sie schaute ihn aus großen Augen an.
Er ging vor ihr in die Hocke. „Deine Mommy hatte einen bösen Traum.“
„Schläfst du hier?“ fragte sie.
„Ich schlafe im Gästezimmer.“
„Gar nicht. Du bist doch hier.“
„Ich
habe
im Gästezimmer geschlafen. Dann hatte deine Mommy den bösen Traum.“
Carrie Anne schaute Madison an, dann nickte sie ernst und richtete ihren Blick erneut auf Kyle. „Sie hat oft böse Träume.“
„Vielen Dank, Herzchen“, murmelte Madison.
Carrie Anne musterte Kyle noch immer. „Heiratest du Mommy?“
„Carrie Anne“, keuchte Madison.
„Das ist okay, Mommy. Er ist ja in Wirklichkeit gar nicht dein Bruder“, sagte Carrie Anne. Und dann zu Kyle gewandt: „Das hat Lindy zu Daddy gesagt. Daddy macht sich bloß Sorgen, weil er denkt, dass du dein eigenes kleines Mädchen haben sollst, und weil er nicht will, dass du denkst, dass du dann mein Daddy bist oder so. Er hat zu Lindy gesagt, dass er dich wirklich gern mag, auch wenn das Einzige, was an ihm falsch ist, das ist, dass er nicht du ist.“
Madison war mit einem Satz aus dem Bett und nahm ihre Tochter auf den Arm. „Carrie Anne, du weißt, dass du nicht zuhören sollst, wenn Erwachsene sich unterhalten, und du weißt auch, dass du
nie
etwas wiederholen sollst, was Daddy gesagt hast. Erinnerst du dich, dass ich dir schon früher gesagt habe, dass ich nicht wissen will, worüber sich Daddy und Lindy unterhalten?“
Kyle richtete sich wieder auf und hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen.
„Ich schätze, ich sollte jetzt wieder ins Gästezimmer gehen.“
Carrie Anne nickte feierlich. „Du kannst erst hier schlafen, wenn ihr verheiratet seid.“
„Das weiß ich“, sagte Kyle. „Und weißt du was? Ich mag deinen Daddy auch, und ich habe vor langer Zeit ein kleines Mädchen verloren, deshalb finde ich es schön, ab und zu mit dir zusammen sein zu können. Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hat. Ich werde ihn fragen, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“
„Keine Chance“, murmelte Madison. „Weil ich ihn nämlich vorher erwürge.“
„Wen? Daddy?“ fragte Carrie Anne besorgt.
„Nein. Ich meine … weißt du was? Ich gehe jetzt in die Küche und mache uns eine heiße Schokolade. Was hältst du davon?“
„Ich setze schon mal die Milch auf“, sagte Kyle. „Ich möchte nämlich auch eine.“
Er verließ das Zimmer. Madison setzte Carrie Anne ab. „So, und jetzt zu dir, junge Dame.“
Carrie Anne verzog das kleine Gesicht. „Entschuldige, Mommy, hab ich irgendwas falsch gemacht?“
„Oh …“ stöhnte Madison. Sie zog ihre Tochter an ihre Brust. „Sag mal, Schätzchen, was glaubst du, hat Daddy vielleicht vor, Lindy zu heiraten?“
„Kann schon sein.“
„Also, wenn er es wirklich vorhat, dann möchte ich wetten, dass er Lindy schon lange kennt und dass er sich sicher ist, dass sie eine gute Stiefmutter sein wird, bevor er euch beide miteinander bekannt gemacht hat.“
„Ganz bestimmt. Ganz bestimmt passt Daddy auf, dass ich eine Stiefmutter bekomme, die mich auch mag, oder meinst du nicht? Stiefmütter können nämlich wirklich böse sein, weißt du. Wie in ‚Schneewittchen‘. Und in ‚Aschenputtel‘.“
Madison lachte weich auf. „Daddy liebt dich mehr als alles andere auf der Welt. Er würde immer zuerst an dich denken. Und ich auch.“
„Dann ist es okay.“
„Was ist okay?“
„Wenn Daddy Lindy heiratet. Und wenn du Kyle heiratest.“
„Also, weißt du, Schatz, Kyle lebt eigentlich nicht hier. Er wohnt in der Nähe von Washington. Er ist nur hier, um zu arbeiten, und wenn er mit seiner Arbeit fertig ist …“
„He, Leute, die Milch ist heiß. Wo ist der Kakao?“ rief Kyle aus der Küche.
„Ich zeig’s ihm!“ rief Carrie Anne und flitzte aus dem Schlafzimmer in die Küche. Mit einem Seufzer folgte Madison ihr.
Carrie Anne plapperte unentwegt, während sie ihre heiße Schokolade tranken. Sie berichtete Kyle von ihren Freunden im Kindergarten.
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