Durst: Thriller (German Edition)
Kühlschranks. Er könnte sich Spaghetti mit Butter machen, überlegte er, entschied sich aber dagegen. Ihm fehlte der Parmesan. Schließlich ging er zum Strand auf Höhe der Duvivier und setzte sich in ein preiswertes, aber passables Restaurant. Der Besitzer war ein alter Spanier, der wahrscheinlich schon hundert Jahre auf dem Buckel hatte. Carlo hatte den Fehler begangen, nichts zu lesen mitzunehmen, und so aß er schnell einen Teller Reis mit Bohnen und gegrillter Hühnerbrust. Dazu bestellte er sich einen grünen Salat und trank ein frisch gezapftes kühles Bier, wie er es an manchen fernen Mailänder Wintertagen getan hatte. Ein trauriges Lächeln schlich sich in sein Gesicht, als er an das Licht dachte, das sich im Winter gegen vier Uhr nachmittags über Mailand legte. Man sah es etwa vom Fenster einer Bar aus, in die man ohne jeden besonderen Grund eingetreten war, um einen Kaffee zu trinken. Nein, dieses Licht sah man nicht, man spürte es. Es senkte sich herab und schimmerte viele Monate lang, ein Licht, in dem man sich verstecken konnte.
Nachdem er das Bier ausgetrunken hatte, wischte sich Carlo mit der Serviette den Mund ab und schaute auf sein Handy. Verrückter Gedanke, aber es wäre schön, wenn Floriana genau in diesem Moment anrufen würde.
Vom Meer wehte die salzige Luft herbei und machte Lust, tief durchzuatmen. Die endlose Kolonne der Autos auf der Avenida Atlântica war eine Schlange aus flüssigem Licht. Carlo setzte sich auf eine der Betonbänke. Floriana hatte Angst. Es war dieselbe Angst, die er in Nelsons Augen gesehen hatte. Seinen Bericht hatte Nelson mit den Worten beschlossen: › Ich weiß nicht, warum ich Ihnen diese Geschichte erzählt habe. Machen Sie damit, was Sie wollen. Vielleicht ist es eine Möglichkeit, an meinem Bruder und seiner Familie irgendetwas wiedergutzumachen. Floriana ist eine robuste Frau, sie wird nicht aufgeben. Sie weiß, was es bedeutet, ein Leben lang zu schuften, ohne einen Lohn dafür zu erhalten. Unsereins ist gewöhnt an das Auf und Ab von Arbeit und Erholung, von bitteren und befriedigenden Erfahrungen, von Scheitern und Triumph. Unter der Woche quälen wir uns aus dem Bett, um uns dann am Sonntag auszuruhen und Zeitung zu lesen, ohne an irgendetwas zu denken. Es gibt aber Leute, die nicht so leben und es auch nie tun werden. Sie wissen nicht, was es bedeutet, etwas fertigzustellen und Anerkennung dafür zu bekommen … Ich kann nichts für sie tun, Sie werden schon herausfinden, warum. Vielleicht spreche ich ja gerade deshalb mit Ihnen. Irgendetwas sagt mir, dass Sie das Ganze verstehen. Sie sind hier, um über Vertreibungen in Brasilien zu schreiben? Floriana und ihr Sohn und mein Bruder Ulisses sind Vertriebene. Vertrieben in einem Krieg, der von Beginn an zum Scheitern verurteilt war – dem Krieg zwischen Menschen, die Seen und Berge besitzen, und jenen, die nicht einmal einen Platz zum Sterben haben … Schreiben Sie über sie, wenn Sie können. ‹
Nelson hatte ihm lange in die Augen geschaut, dann hatte er sich verabschiedet und war in der Menge vor der kleinen Kirche von Sobradinho verschwunden. Wenige Stunden später hatte man ihn entführt und zu Tode gefoltert.
Eines war Carlo seltsamerweise nie in den Sinn gekommen: Die Täter hatten ihn vielleicht mit Nelson sprechen gesehen und waren ihm womöglich sogar gefolgt.
31
Matheus Braga lag auf einer dünnen Bambusmatte im achtzehnten Stockwerk einer Luxusresidenz im Zentrum von São Paulo.
Neun Stockwerke darunter merkte Cássia Toledo in diesem Moment, dass sich Matheus nicht mehr an ihrer Seite zusammenrollte. Eine halbe Stunde zuvor war er lautlos aus den Laken geschlüpft, hatte sich das Gesicht gewaschen und die Wohnung verlassen. Zu den Leistungen, die im astronomischen Mietpreis der Wohnung enthalten waren, gehörte auch ein Zen-Raum im Dachgeschoss. Man betrat ihn mit einer Magnetkarte und konnte dann aus einer breiten Palette an natürlichen Räucherdüften und musikalischen Stimmungen wählen. Zunächst hatte sich Matheus allerdings an eines der großen Fenster gestellt und ein paar Minuten auf die Stadt hinabgeschaut, diese endlose Fläche aus weißen Türmen vor einem grauen Hintergrund. Die Sonne schien hinter einem Bettlaken aufzugehen.
Er atmete durch und begann seine Yoga-Übungen. Nach den ersten Positionen war ihm allerdings klar, dass es nicht leicht werden würde. Er drückte den Rücken durch, stützte energisch die Arme neben dem Oberkörper auf und bog den Kopf nach
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