Durst: Thriller (German Edition)
öffnete sich die Schallschutztür zu seinem Büro. In den großen getönten Scheiben brach sich das Sonnenlicht und nahm die Farbe von Lakritz an.
» Setz dich bitte, Edith. Steh nicht da rum. «
Sie gehorchte. Edith war achtundzwanzig, hatte ein ovales, angenehmes Gesicht und trug ihr kastanienbraunes Haar in einem Knoten, der stets perfekt saß.
» Was kann ich für Sie tun, Doktor? «
Bruno schob der Frau seinen Terminkalender hin.
» Siehst du die Verabredung um zwölf? «
» Ja, Doktor. «
» Warum wurde die nicht gestrichen? «
» Sie hatten mich nicht gebeten, sie zu streichen. Außerdem denke ich, dass Sie Doktor Mucchetti unbedingt persönlich empfangen sollten. «
» Warum? «
Edith schwieg einen Moment und suchte nach den passenden Worten. » In einer solchen Angelegenheit kann schließlich nicht ich entscheiden, Doktor. «
Bruno empfand die Antwort als persönlichen Angriff.
» Verzeih, Edith, aber was machst du dann hier? «
Der Frau war offenbar unbehaglich zumute. Sie rutschte auf die Stuhlkante und beugte sich vor.
» Aber, Doktor. Mucchetti ist der Generaldirektor. «
» Ja und? «
» Er bittet schon zum dritten Mal um einen Termin. Er wird sich nicht mit mir zufriedengeben. «
» Erklär mir das. «
Edith schien den Tränen nahe. Sie rang die weißen, perfekt gepflegten Hände. Am Ringfinger der linken trug sie einen zarten, eleganten Ring.
» Ich weiß nicht, was ich ihm noch alles erzählen soll. Die vergangenen beiden Male habe ich versucht, ihm klarzumachen, dass sämtliche Weisungen in dem Papier stehen, das wir letzte Woche verteilt haben. Er möchte trotzdem mit Ihnen sprechen, Doktor. Was soll ich da tun? «
Bruno lächelte. » Nun, Edith, du solltest es so einrichten, dass ich ihm nicht begegnen muss. Schließlich bist du meine persönliche Assistentin. «
» Ich weiß, Sie haben natürlich recht. Mucchetti ist aber der Generaldirektor, nicht irgendein Zulieferer oder sonst jemand von außen. Er ist der Generaldir… «
» Ich habe verstanden. « Bruno hob die Stimme. » Er ist der Generaldirektor. «
» Genau. « Auch Ediths Stimme klang jetzt beinahe hart.
Bruno gefiel das.
» Unser Problem ist also, Edith– und bitte korrigiere mich, wenn ich mich irre–, dass Mucchetti der Generaldirektor ist und also der Verantwortliche für die Supermärkte. Wäre das nicht so, dann säßen wir jetzt nicht hier und müssten uns mit diesem Problem herumschlagen. «
Sie schaute ihn mit leicht aufgerissenen Augen an. » Ich weiß nicht, ob es ein Problem ist… «
» Für mich ist es das. «
Edith schwieg.
Er fixierte sie mit seinen kalten, blauen Augen.
» Was machen wir also, Edith? « , fragte er dann.
Sie schwieg immer noch.
» Ich sage es dir. Wir müssen es so einrichten, dass er nicht mehr der Generaldirektor ist. Das scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein. «
Edith erstarrte. » Sie wollen ihm kündigen? «
» Nein « , antwortete Bruno sofort. » Ich würde ihm aber gerne einen anderen Titel verschaffen und eine andere Rolle. Wissen Sie, wie viel Mucchetti im Monat verdient? «
» Ja, Doktor. «
» Wie viel? «
» Vierundzwanzigtausend Reais. «
» Findest du das gerecht? Weißt du, wie viel eine Kassiererin in einem unserer Supermärkte verdient, irgendeine Larissa oder Regina oder wie auch immer, mit zwei freien Schichten im Monat? «
» Das weiß ich nur zu gut, Doktor. «
» Also? «
» Sechshundert Reais. «
» Ich möchte dich etwas fragen, Edith, und ich bitte dich um eine ehrliche Antwort. Wer ist wichtiger für unsere Supermärkte, Mucchetti oder Regina? «
Edith spürte, wie ihr kalter Schweiß am Körper herunterrann.
» Ich weiß es nicht, Doktor. Ich denke, sie sind beide wichtig. «
» Falsch. Versuchen wir es gleich noch einmal: Wer von den beiden ist wichtiger? «
Edith stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. » Ich weiß es nicht, Bruno, wirklich… «
In Momenten wie diesem redete Edith ihn manchmal mit seinem Vornamen an. Das verstieß natürlich gegen das Protokoll, aber er mochte das.
» Regina ist wichtiger, Edith. Ist doch klar, dass sie wichtiger ist. Ohne Menschen wie Regina, die bereit sind, zwei Stunden mit dem Bus zu fahren, um dann acht oder zehn Stunden auf demselben Fleck zu hocken, ohne zum Klo gehen zu können, Menschen, die sich von der giftigen Tinte unseres Geldes– fast des schlimmsten auf der ganzen Welt übrigens– blaue Fingerkuppen holen und dann abends, oder vielmehr nachts, wieder zwei Stunden
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