Éanna - Ein neuer Anfang
über dem Eingang, auf dem der verblichene Schriftzug gerade noch zu lesen war. »Dem Schild nach muss es der richtige Laden sein: Pete Kendall’s Grocery! Mal sehen, ob wir dort tatsächlich alles so billig bekommen, wie Liam versprochen hat.«
Éanna verzog das Gesicht. »Sieht nicht gerade einladend aus. Aber gut, lass uns mal reingehen und uns umsehen.«
Sie stiegen die Stufen hinunter und traten in den nur spärlich beleuchteten Raum, der ihnen im ersten Moment wie eine große, düstere Kellerhöhle vorkam, in der mit dem Schlimmsten zu rechnen war. Doch als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, standen sie eine Weile einfach nur da und schauten sich sprachlos um. Ein solches Geschäft hatten sie noch nie gesehen!
Gleich hinter der Tür reihten sich auf der einen Seite Körbe mit Kohlköpfen, Kartoffeln, Bohnen, getrockneten Äpfeln, Eiern und anderen Lebensmitteln aneinander. Auf der anderen Seite standen Kisten und Tonnen, die bis oben hin mit Kohlen, gebündeltem Anmachholz, Besenstielen, Schüreisen, Kautabakstangen, Melasse, Mehl, Zucker, aber auch mit Nägeln, Wasserkesseln und allerlei anderem Praktischen gefüllt waren. Von den niedrigen Deckenbalken hingen getrocknete Kräuter, Würste, Speckseiten, Rinderzungen und Ketten zusammengebundener Zwiebeln herab. Dahinter konnten die Mädchen eine Reihe Stand- und Wandregale ausmachen, auf deren Brettern Eingemachtes in Gläsern, Konserven, Kerzenbündel, abgepackter Tee, Gewürze, Zigarren und noch vieles mehr feilgeboten wurden. Davor standen weitere Kisten, Tonnen und Säcke voll neuer Kostbarkeiten.
Der hintere Teil von Kendall’s Grocery wurde von einer langen, niedrigen und breiten Theke aus geschwärztem Holz beherrscht, über der zwei Öllampen hingen, deren diffuses Licht nicht einmal ausreichte, diesen Teil des Raumes wirklich zu erhellen. Auf der Theke standen zwei große Fässer, in dem Regal dahinter erspähte Éanna ein paar Dutzend Flaschen.
Drei Frauen in ärmlicher Kleidung standen bei den Fässern und lachten über etwas, das eine von ihnen gerade gesagt hatte. Worauf der Mann mit dem Vollbart, der auf einem Schemel hinter der Theke saß und der, wie es schien, nur eine Lederschürze vor der nackten, dicht behaarten Brust trug und seiner Statur nach gut und gern für Mister O’Grady hätte arbeiten können, mit rauer Stimme erwiderte: »Keine Sorge, ich füll euch die Gläser schon auf. Aber erst die Münze auf den Tisch, Sally, sonst bleibt der Hahn zu! Bist hier nicht bei der Mission!«
»Alter Halsabschneider!«, beschwerte sich die mittlere der drei Frauen mit schriller Stimme. »Ich bin dir doch nie auch nur einen Cent schuldig geblieben, oder?« Und damit knallte sie eine Münze auf die Theke. »So, und jetzt lass endlich dein Giftwasser fließen, Pete! Und immer hübsch randvoll, wenn ich bitten darf!«
Éanna erkannte eine der drei Frauen wieder. Sie war ihnen am gestrigen Abend im Treppenhaus begegnet und hatte freundlich gegrüßt. Und jetzt stand sie da und trank schon am frühen Morgen irgendwelchen billigen Fusel, den der Ladeninhaber seiner Kundschaft ausschenkte, als führte er eine Kellertaverne!
Und tatsächlich war genau das das Hauptgeschäft von Pete Kendall’s Grocery und all den anderen Groceries, auf die man in den Straßen von Five Points stieß. Mit dem billigen Gin, Brandy und Whisky, den die Besitzer der Geschäfte meist selbst in einem Hinterzimmer herstellten und nicht selten mit gefährlichen Zusätzen verschnitten, machten sie den meisten Umsatz. Denn es mangelte hier wahrlich nicht an Frauen, die ihrer Not und ihrem Elend für kurze Zeit zu entkommen suchten, indem sie bei ihren Einkäufen vom Haushaltsgeld ein paar Cent abzwackten und sich gemeinsam mit anderen Frauen aus der Nachbarschaft in einer der Groceries einen kleinen Schwips oder auch mehr antranken.
Als Martha, die schielende Frau des Ladeninhabers, wenig später zwischen zwei Regalen auftauchte und sie nach ihren Wünschen fragte, beeilten Éanna und Emily sich, so schnell wie möglich ihre Einkäufe zu tätigen und wieder an die frische Luft zu kommen. Denn es wurde allmählich höchste Zeit für sie, mit dem Streichholzverkauf für diesen Tag zu beginnen.
Das Geschäft lief bis zum Abend ausgesprochen schlecht und das änderte sich auch an den folgenden beiden Tagen nicht wesentlich. Denn in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag setzte starker Regen ein, der bis zum Samstag anhielt. Schon bei trockenem Wetter hatten sie
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