Éanna - Ein neuer Anfang
entgegen. »Was bringt euch denn in diese noble Gegend? Sagt bloß, ihr seid plötzlich in mein Gewerbe eingetreten? Soll ich euch vielleicht ein paar gute Ratschläge geben?«
»Du kannst uns mal!«, erwiderte Éanna schroff und bahnte sich, ohne Caitlin anzublicken, einen Weg durch die Menschenmenge.
»Ja, du hast uns gerade noch gefehlt!«, zischte Emily. »Komm, Éanna, sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen!«
»Ach was, ihr seid also auch in Five Points gelandet?«, rief Caitlin ihnen ungläubig nach. »Na dann wird man sich ja bestimmt noch öfter sehen. Sagt nur Bescheid, wenn ihr einen tüchtigen Zuhälter braucht. Denn ohne einen bringt ihr beide doch bestimmt noch nicht mal einen Volltrunkenen auf die Matratze!« Wieder lachte sie und diesmal klang es übertrieben schrill. »Und schöne Grüße an Brendan. Der war gar nicht mal so schlecht im Bett, wenn auch reichlich tollpatschig. Aber das wirst du inzwischen ja wohl schon selbst herausgefunden haben, nicht wahr, Éanna?«
»Halt deinen …!« Emily blieb mit hochrotem Kopf und geballten Fäusten stehen und drohte in Caitlins Richtung. Einige der Männer, die ihnen nachgafften, lachten.
»Lass sie!«, sagte Éanna, packte die Freundin am Arm und zog sie weiter. »Sie ist es nicht wert, dass man auf ihr böses Gerede eingeht. Das will sie doch nur!«
In ihrer Wohnung angekommen, verloren die Mädchen kein Wort mehr über die unangenehme Begegnung. Stattdessen machten sie sich daran, Kartoffeln zu schälen, zu denen es dicke Bohnen und für jeden zwei Scheiben knusprigen Speck geben sollte. Das Essen stand bereits auf dem Tisch, als Brendan von der Arbeit kam, und schon bald wurde die Stimmung gelöster.
Später schaute Liam wieder einmal für eine Stunde bei ihnen herein. Wie so oft drehte es sich um die Arbeitssuche von Emily und Éanna und an diesem Abend hatte Liam einen Vorschlag für sie. Er hatte sich oben bei ihm im vierten Stock umgehört. »Warum versucht ihr es nicht mal als Näherin für einen der vielen Betriebe, die Hemden, Blusen, Unterröcke und andere Kleidungsstücke aus bereits vorgefertigten Einzelstücken in Heimarbeit zusammennähen lassen?«
»Als Näherin? Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Éanna überrascht.
»Weißt du vielleicht auch, was man da verdienen kann und wie man zu so einer Arbeit kommt?«, wollte Emily wissen. »Und wo finden wir solche Betriebe?«
Liam sah sie gut gelaunt an. »Das lässt sich leicht in Erfahrung bringen. Ich habe den Tipp von Kate O’Hara, sie wohnt bei uns auf dem Stockwerk und arbeitet als Näherin, seit ihr Mann sie mit ihren beiden Töchtern hat sitzen lassen. Wenn ihr wollt, dann frage ich sie, ob sie euch hilft, an solch einen Job zu kommen.«
Emilys Augen leuchteten auf. »Das wäre wirklich nett von dir, Liam! Vielleicht wäre das tatsächlich eine ordentliche Arbeit für uns. Denn mit der Nähnadel wissen Éanna und ich genauso gut umzugehen wie jede andere, die es schafft, Hemden zusammenzunähen!«
Liam genoss Emilys Aufmerksamkeit sichtlich. »Ich weiß von einer Frau in der Fünften, die eine Nähmaschine hat, was die Sache natürlich um einiges leichter macht, als wenn man mit der Nadel in der Hand arbeiten muss. Aber das ist sicher keine Bedingung, um für diese Kleiderlieferanten zu arbeiten. Soviel ich von Kate weiß, verdienen auch noch andere Frauen und Mädchen hier im Haus ihr Geld als einfache Näherin. Wisst ihr was, ich gehe jetzt gleich zu Kate hoch und frage sie, ob sie euch helfen kann. Sie ist eine herzensgute Frau und wird es ganz sicher tun!« Er stand auf.
»Wenn sie nur halb so herzensgut und hilfsbereit ist wie du, Liam, dann werden wir schon bald Arbeit haben, meinst du nicht auch, Emily?«, sagte Éanna.
Emily und Liam erröteten zugleich, und noch bevor Emily etwas sagen konnte, war Liam auch schon zur Tür hinaus.
Als er wenige Minuten später zurückkehrte, brachte er ihnen die erhoffte gute Nachricht: »Ich habe es doch gewusst, dass Kate O’Hara euch helfen kann! Sie wird euch gleich am Montagmorgen zu der Fabrik mitnehmen, in der sie arbeitet, und bei ihrem Arbeitgeber ein gutes Wort für euch einlegen«, verkündete er freudestrahlend. »Sie hat mir gesagt, dass sie sowieso dort hinmuss, um einen Stoß fertiger Hemden abzuliefern und neues Material zu holen. Aber ich soll euch ausrichten, dass ihr unbedingt einen Dollar mitbringen müsst. Denn der wird von allen Kleiderfabrikanten als Pfand für das Material verlangt.«
»Kein
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