Éanna - Ein neuer Anfang
Augen?«
»Eines Tages ein eigenes Stück Land haben, von dem man leben kann, egal wie hart man dafür arbeiten muss«, entgegnete Éanna lächelnd. »Ein Stück Land, das nicht nur gut genug ist, um wässrige Kartoffeln darauf anzubauen. Von wo aus man bis weit in die Ferne blicken kann, am liebsten bis zum Horizont, und wo man einen hohen klaren Himmel über sich hat, so wie drüben bei uns in Irland – das ist mein Traum.«
»Ja, davon lohnt es sich zu träumen.« Emily blickte unwillkürlich in den von Rußwolken verhangenen Himmel hinauf, der über den Straßenschluchten der Stadt hing. Wie weit Éannas Traum von der Realität entfernt war!
»Ich will aber nicht nur davon träumen!«, fuhr Éanna energisch fort, als habe sie die Gedanken ihrer Freundin gelesen. »Sondern ich will und werde alles tun, damit ich eines Tages tatsächlich irgendwo hier in Amerika dieses Stück Land besitze – und einen kleinen Hof noch dazu. Und zwar ohne von der Gnade und Willkür eines Großpächters abhängig zu sein!«
Emily warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Ich fürchte, bis wir beide ein eigenes Stück Land haben werden, liegt noch ein ganz schön langer und harter Weg vor uns!«
»Mag sein, aber ich bin fest entschlossen, diesen Weg zu gehen, Emily!« Und nach einem Blick in Emilys skeptisches Gesicht fügte Éanna noch hinzu: »Ich weiß, was du gerade denkst, aber Five Points ist nur eine vorübergehende Station auf unserem Weg! Wir werden nicht wie andere hier hängen bleiben und scheitern, das schwöre ich dir beim Grab meiner Eltern und Geschwister! Ich werde nie und nimmer auf Dauer in New York bleiben und schon gar nicht in Five Points oder einem ähnlich miesen Viertel!«
Emily musste lachen, als sie die geballten Fäuste ihrer Freundin sah. »Also wenn einer das schaffen kann, dann bist du es, Éanna! Auf dich würde ich immer setzen, sogar meinen letzten Cent!«
»Nicht ich, sondern wir werden es schaffen!«, korrigierte Éanna ihre Freundin ernst und entschlossen. »Keine Widerrede! Das haben wir uns geschworen – und das sind wir all unseren Lieben schuldig, die wir in Irland zu Grabe tragen mussten und die uns auf unserer Reise nach Amerika nicht begleiten konnten. So, und jetzt erzähl mir doch bitte mal, wie es kommt, dass Liam dich in dieser Woche schon mindestens zehn Mal scheinbar zufällig im Treppenhaus abgepasst hat!«, wechselte sie ganz plötzlich das Thema. »Gib zu! Er hat ein Auge auf dich geworfen. Und er gefällt dir, stimmt’s?«
Emily wurde rot. »Wie kommst du denn darauf? Das bildest du dir bloß ein!«, wehrte sie verlegen ab.
»Von wegen! Ich habe doch Augen im Kopf. Liam schaut dich immer wieder verstohlen an, wenn er glaubt, dass es keiner mitbekommt. Und ich freue mich so für dich, Emily!«
»Liam ist einfach nur nett und hilfsbereit, Éanna, nichts weiter.«
»Wenn du meinst …« Éanna hakte sich bei Emily unter und lachte. »Aber ich sage dir trotzdem, da bahnt sich etwas zwischen euch an. Und ich würde mich riesig für euch beide freuen, wenn daraus wirklich etwas Ernstes würde.«
»Ernst ist gerade etwas ganz anderes, nämlich dass wir unbedingt eine neue Arbeit finden müssen!«, entgegnete Emily schlagfertig und war ganz offensichtlich erleichtert, dass Éannas Aufmerksamkeit in diesem Moment von einer Gruppe Menschen gefesselt wurde, die sich vor den beiden heruntergekommenen Tavernen Diving Bell Saloon und Arcade Saloon in der Orange Street versammelt hatten.
Es waren mehrere Männer und Frauen, Letztere ihrer Aufmachung nach zweifellos Dirnen, die in einen heftigen Wortwechsel vertieft zu sein schienen. Deutlich hob sich eine Frauenstimme von den anderen Stimmen ab, und als sie näher kamen, wusste auch Emily, zu wem sie gehörte: Es war die Stimme der Dirne Caitlin.
»Nun mal ganz langsam, Süßer«, säuselte Caitlin spöttisch und verlockend zugleich, als ihr ein Mann in dreckiger Arbeitskleidung grob und ohne jede Scham in den Ausschnitt fassen wollte. »Kannst sicher sein, dass der Inhalt hält, was die Verpackung verspricht. Aber ein wenig wirst du doch wohl noch warten können, oder?«
Abrupt blieb Éanna stehen und griff nach Emilys Arm, um schnell mit ihr die Straßenseite zu wechseln. Doch es war schon zu spät. Denn genau in diesem Moment drehte sich Caitlin in ihre Richtung um und sah sie.
»Na das ist ja mal ein hübscher Zufall! Éanna und ihr einfältiger Schatten Emily in meinem Revier!«, rief sie ihnen mit einem bösen Lachen
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