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Éanna - Ein neuer Anfang

Éanna - Ein neuer Anfang

Titel: Éanna - Ein neuer Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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heißen Temperaturen in eine wahre Hölle verwandelte. Alle vier fielen sofort in einen tiefen Schlaf, sowie sie sich nach dem Essen auf den Betten ausgestreckt hatten. Doch keiner von ihnen beklagte sich – ein Blick auf die Kellerratten und auf die zerlumpten und ausgemergelten Kinder und Erwachsenen, die Tag und Nacht bettelnd durch die Straßen von Five Points streiften und den Abfall nach Essbarem durchwühlten, reichte aus, um dankbar für die Möglichkeit zu sein, eine feste Arbeit zu haben.
    Nur der Sonntag bildete eine Ausnahme, die einzige Vergnügung, die sie sich in diesen langen und quälend heißen Wochen erlaubten. Dann wanderten sie nach der Messe für ein bis zwei Stunden flussaufwärts nach Corlear’s Hook, wo der East River oberhalb der letzten Werften und Kaianlagen einen scharfen Bogen machte und wo das Wasser sauber und erfrischend kalt war. Hier fanden sich die einfachen Leute jeden Sonntag zu Hunderten ein, um im Fluss zu baden, am Ufer Ball oder Fangen zu spielen, mit ihren Familien und Freunden bei einem ärmlichen Picknick zusammenzusitzen oder einfach nur träge in der Sonne zu liegen und den vorbeiziehenden Schiffen nachzuschauen. Sehr beliebt war dieser Treffpunkt auch bei vielen unverheirateten jungen Männern und Frauen, die hauptsächlich nach Corlear’s Hook kamen, um miteinander anzubändeln. Für Emily und Liam stellten diese wenigen Stunden die einzige Möglichkeit in der Woche dar, länger als ein paar Minuten zusammen zu sein und die Nähe des anderen unbeschwert zu genießen. Dass die beiden einander gern hatten, war mittlerweile nicht mehr zu übersehen.
    Doch allzu schnell waren die kostbaren Stunden verstrichen und Éanna und Emily mussten zu ihrer Näharbeit in das stickig heiße Zimmer in der Cross Street zurückkehren. Durch diese eiserne Disziplin gelang es den beiden immer wieder, ihr Pensum in der vorgegebenen Zeit zu erfüllen, und so wurde der montägliche Gang zur Manufaktur der Kerrigans allmählich zum festen Ritual, das stets von gemischten Gefühlen begleitet wurde: von dem Hochgefühl, die erwartete Arbeit verrichtet zu haben, der Hoffnung, in der Fabrik auf Mister Kerrigan zu treffen, und der Sorge, wie viel Lohn Missis Kerrigan ihnen wohl diesmal abziehen würde. Nie begingen die beiden Mädchen erneut den Fehler, ihrer Vorgesetzten zu widersprechen, wenn diese ein Kleidungsstück bemängelte, das in Wirklichkeit tadellos vernäht war, vielmehr fanden sie sich mit der Zeit immer mehr mit diesen Launen ab.
    An besonders drückenden Tagen verbrachten Éanna, Emily, Brendan und Liam die Nächte nicht in ihrer winzigen Wohnung, sondern schliefen oben auf dem Flachdach. Das war eine Angewohnheit, die sie von den Bewohnern der Mietshäuser übernahmen, die schon mehrere Sommer in New York verbracht hatten.
    In heißen Nächten waren die Dächer überall in Five Points und auch in anderen Vierteln der Metropole bis auf die letzte Ecke belegt. Und man durfte mit seinen Decken nicht zu spät erscheinen, wenn man noch einen Schlafplatz ergattern wollte, so dicht gedrängt lagen die Menschen nebeneinander. Diejenigen, deren Zimmer nach hinten zu den engen Höfen hinaus lagen, wo von den Aborten ein entsetzlicher Gestank aufstieg und durch die Fenster in die Wohnungen der unteren Stockwerke drang, flüchteten meist schon am frühen Abend auf die Hausdächer.
    War es nachts in den Räumen überhaupt nicht mehr auszuhalten, wagten sich die Hausbewohner sogar auf die wenigen geneigten Dächer des Viertels. Und nicht selten geschah es dabei, dass ein Schlafender versehentlich vom Dach gestoßen wurde oder sich durch eine unbewusste Drehung selbst in die Tiefe stürzte. Diese entsetzlichen Tragödien hielten die anderen jedoch nicht davon ab, sich in der nächsten heißen Nacht erneut in Gefahr zu begeben. In Five Points zählte ein Leben eben nicht viel.
    Wenn Éanna in sternklaren Nächten rücklings auf ihrer Decke lag und hinauf in das glitzernde Universum schaute, träumte sie mit offenen Augen von ihrem eigenen Stück Land und malte sich ihr zukünftiges Leben in den schönsten Farben aus. Sie dachte dann an die Ersparnisse, die Brendan und sie in einer alten Teebüchse aufbewahrten und die mit jeder Woche um eine bescheidene Handvoll Münzen anwuchsen.
    Manchmal aber schweiften ihre Gedanken, ohne dass sie es wollte, auch zu Patrick O’Brien ab, zu den Sonntagnachmittagen in Dublin, die nun schon eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen schienen. Jedes Mal spürte sie

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