Éanna - Ein neuer Anfang
Missis Kerrigan für den Verlust der Hemden entschädigen zu können! Was sollte jetzt nur werden? Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Endlich hatten sie das Dach erreicht. Hustend und nach frischer Atemluft gierend taumelten Brendan und Éanna aus der Luke. Während die anderen Bewohner des Hauses, die sich hierher hatten retten können, schon über die Nebendächer flüchteten, stand Liam noch nahe der Ausstiegsluke und schrie unablässig Emilys Namen. Dann erblickte er Brendan und Éanna.
»Wo ist Emily? Ist sie bei euch?«, rief er verzweifelt. »In Gottes Namen, bitte sagt mir, dass ihr wisst, wo sie ist!«
Wie durch ein Wunder erklang da plötzlich hinter ihnen Emilys heisere Stimme: »Ich bin hier, Liam! Mir ist nichts passiert!« Sie stürzte mit rußgeschwärztem Gesicht und wirren Haaren auf ihre Freunde zu, noch immer hielt sie das Kleiderbündel eng an sich gepresst.
Liam lief ihr entgegen und vergaß seine Schüchternheit völlig. Er schloss Emily in seine Arme, drückte sie mit einem erlösten Aufschluchzen fest an sich und küsste sie. »Mein Liebstes! Dem Himmel sei Dank!«
Allen vier war die Erleichterung anzusehen. Das Einzige, was in diesem Moment zählte, war, dass sie noch lebten und wieder zusammen waren. Doch viel Zeit zur Freude blieb ihnen nicht. »Wir müssen weiter!« Brendan sah sich besorgt um. »Es kann nur noch Sekunden dauern, bis die Flammen aus dem Dach schlagen und das Feuer auch auf die Nachbarhäuser übergreift! Also nichts wie weg!«
Hastig folgten sie dem Strom der anderen Flüchtenden, ließen sich auf das angrenzende Flachdach eines Nachbarhauses herab und rannten, nachdem sie erkannt hatten, wie überfüllt das Treppenhaus hier bereits war, hinüber zum nächsten Gebäude. Selbst im Treppenhaus der zweiten Mietskaserne ging es noch chaotisch zu: Nicht nur die Menschen, die sich aus dem brennenden Haus hatten retten können, hasteten hier hinunter ins Freie, auch die Hausbewohner selbst hatten die Flucht ergriffen. Denn Brände waren in Five Points keine Seltenheit. Und man wusste nur zu gut, wie lange es dauerte, bis die Feuerwehrwagen mit ihren großen Wassertanks zur Stelle waren und die Männer mit der Bekämpfung des Feuers beginnen konnten. Stand ein Haus lichterloh in Flammen, dann griff der Brand in diesem Viertel meist unweigerlich auch auf die Nachbarhäuser über. Nicht selten wurde auf diese Weise ein ganzer Straßenzug vernichtet, bevor die Feuerwehr Herr über die Situation geworden war.
Als sie endlich die Straße erreicht hatten und inmitten einer Menge von halb nackten Männern, Frauen und Kindern, aber auch zahlreichen Neugierigen standen, die das Spektakel angelockt hatte, verteilte Emily schnell die gerettete Kleidung an ihre Freunde. Indessen schlugen in allen Stockwerken wild zuckende Flammen aus den Fenstern ihres Mietshauses. Aus verschiedenen Richtungen ertönten nun die lauten Glocken von mehreren Feuerwehrwagen.
Als die Feuerwehr eintraf, standen Éanna, Emily, Brendan und Liam noch eine Weile wie gelähmt da und beobachteten stumm vor Schrecken, wie die Männer begannen, das tödliche Feuer einzudämmen. Die erste Freude, den Flammen entkommen zu sein, hatte sich gelegt und bedrückenden Sorgen Platz gemacht: Wie sollten sie fortan leben – ohne Geld, Arbeit und ein Dach über dem Kopf? Sie besaßen nicht mehr als das, was sie auf der Haut trugen.
»Lasst uns irgendwo anders hingehen«, schlug Liam schließlich vor.
»Und wohin sollen wir gehen?«, fragte Emily ratlos.
Darauf wusste auch Liam keine Antwort.
Schließlich verbrachten sie die Nacht mit vielen ihrer ehemaligen Nachbarn, die wie sie all ihr Hab und Gut verloren hatten, auf dem nahen Chatham Square, wo ständig neue Opfer der Flammen eintrafen. Denn wie erwartet hatte das Feuer, dessen Ursache nie bekannt werden sollte, auf die Nachbarhäuser übergegriffen und fraß sich bis in die frühen Morgenstunden unerbittlich seinen Weg durch die Mietskasernen.
Éanna machte sich in dieser Nacht bittere Vorwürfe, als sie, eng an Brendan gedrängt, unter dem Dach eines Markthauses kauerte. Warum hatte sie die Bücher von Mister O’Brien nicht längst verkauft? »Und warum habe ich mich im Treppenhaus nicht dichter bei dir an der Wand gehalten«, überlegte sie unter Tränen. »Dann wäre ich nicht über das Treppengeländer gestürzt und hätte die Bücher nicht verloren. Und wir hätten noch genügend Geld, um uns eine neue Unterkunft zu suchen und weiter für die Kerrigans arbeiten
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