Echo gluecklicher Tage - Roman
während sie in eine Seitenstraße einbogen, um den Weg in die Diversion Street abzukürzen. »Vor einem Jahr hatten wir furchtbare Geldsorgen, und jetzt sind wir hier in Amerika.«
»Und haben immer noch Geldsorgen.« Sam schmunzelte erneut. »Und wir arbeiten in einem Saloon! Papa würde sich im Grab umdrehen.«
»Ich glaube, er wäre stolz darauf, dass wir so mutig sind«, widersprach Beth verärgert. »Außerdem ist der Saloon nur der erste Schritt. Wir werden es schon schaffen, reich zu werden.«
Doch Beth musste feststellen, dass es nicht so leicht war, reich zu werden. Im Oktober, sechs Monate nach ihrer Ankunft in New York, spielte sie immer noch an drei Abenden in der Woche im Heaney’s, und tagsüber arbeitete sie in einem Secondhand-Laden an der Bowery. In einer guten Woche verdiente sie bis zu dreißig Dollar, aber die guten Wochen waren selten; meistens waren es nur ungefähr achtzehn Dollar. Doch das war, wie sie bald merkte, weit mehr, als die meisten Frauen verdienen konnten. Die meisten alleinstehenden Frauen arbeiteten als Putzfrauen, Verkäuferinnen oder Kellnerinnen, und alle bekamen nur wenig Lohn, und ihre Tage waren lang.
Verheiratete Frauen mit Kindern konnten dagegen nur von zu Hause aus arbeiten, um ein bisschen Geld zu verdienen, für Leute, die ihre Verzweiflung ausnutzten. Einige nähten für wenige Cent pro Stück für Bekleidungshersteller und schufteten vierzehn Stunden am Tag in überfüllten, schlecht beleuchteten Räumen. Andere machten Streichhölzer und ließen die ganze Familie mitarbeiten. Frauen wie diese konnten sich glücklich schätzen, wenn sie einen Dollar am Tag verdienten, und die meisten bekamen nur die Hälfte.
Beth hatte den zweiten Job nicht wegen des Geldes angenommen, sondern weil sie während des Tages einsam zu Hause saß und nichts zu tun hatte. Sie war eines Tages in den Secondhand-Laden in der Nähe des Heaney’s gegangen, um nach einem neuen Kleid zu suchen. Ira Roebling, die alte Jüdin, der das Geschäft gehörte, war sehr freundlich und redselig, und als Beth den Laden mit einem eingepackten roten Satinkleid wieder verließ, hatte sie Ira eine Kurzversion ihrer Lebensgeschichte erzählt, einen Teil von Iras erfahren und einen Job angeboten bekommen.
Ira war in den 1850er Jahren mit ihrem Mann und seinen Eltern aus Deutschland gekommen. Sie hatten jahrelang erfolgreich eine Bäckerei geführt, aber ein Jahr nach dem Tod ihrer Schwiegereltern war ihr Mann während einer Grippeepidemie gestorben, und ohne ihn konnte Ira die Kuchen nicht mehr backen. Sie wandte sich dem Verkauf von Secondhand-Kleidung zu, weil sie Kleider liebte und viel Kontakt zu Leuten hatte, die ihre alten feinen Sachen an sie verkauften. Mit jedem Schiff, das neue Einwanderer brachte, kamen immer neue Leute, die billige Kleider brauchten, und genauso viele, die ihre verkaufen wollten.
Ira war eine verschrobene, manchmal geizige alte Dame. Sie bezahlte extrem wenig für die Kleider und verkaufte sie zu Höchstpreisen. Beth nahm an, dass sie etwas über sechzig war, obwohl das schwer zu sagen war, denn sie war schlank, stark und voller Energie. Sie trug immer Schwarz, inklusive eines Glockenhutes, den sie nicht mal abnahm, wenn es heiß war. Aber wie exzentrisch sie auch war, sie war lustig und clever. Beth hatte ihr zugesehen, wie sie den Blick über eine Zahlenreihe gleiten ließ und die Summen im Nu addierte, und sie vergaß nie etwas, nicht den Namen eines Kunden und kein einziges Kleidungsstück in ihrem Laden. Allein die Anzahl der Leute, die jeden Tag nur für ein kleines Schwätzchen hereinkamen, zeigte, wie beliebt sie in der Nachbarschaft war.
Ira übernahm fast immer das Verkaufen, und Beth sortierte die Kleider nach Größen, besserte sie gelegentlich aus und hielt generell Ordnung im Laden. Das war eine beachtliche Leistung, denn er war vom Boden bis zur Decke vollgestopft mit Sachen. Es gab riesige Kartons mit Schuhen, die alle durcheinanderlagen, und Beth hatte als Erstes die Paare zusammengebunden und nach Farben und Größen sortiert. Sie probierte auch oft Sachen an, etwas, zu dem Ira sie ermutigte – sie sagte immer, dass sie nur Sachen verkaufen könnten, von denen sie auch wüssten, wie sie aussähen.
Ira wohnte über ihrem Laden, und ihre drei Zimmer waren genauso chaotisch. Während des Sommers, als es unerträglich heiß war, fragte Beth sich, warum sie nicht aufgrund von Sauerstoffmangel ohnmächtig wurde, denn sie öffnete niemals die Fenster aus lauter
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