Echte Morde
küsste, dass ihm Hören und Sehen verging.
„Selten", gestand ich mit ehrlichem Bedauern. „Warum?"
„Haben Sie je erlebt..."
Es klingelte zweimal an meiner Vordertür.
„Wenn Sie mich kurz entschuldigen würden?", bat ich mit noch ehrlicherem Bedauern und ging nachsehen, wer etwas von mir wollte.
Es war Mr. Windham, mein Briefträger. Er gab mir ein Päckchen in bräunlichem Packpapier. „Das passte nicht in Ihren Briefkasten", erklärte er.
Ich warf einen Blick auf den Adressaufkleber. „Aber es ist ja gar nicht für mich, sondern für meine Mutter", sagte ich verwundert.
„Wir müssen uns an die angegebene Adresse halten, also habe ich es hierher gebracht", entgegnete Mr. Windham pflichtbewusst.
Natürlich hatte er recht: Auf dem Päckchen stand meine Adresse. Als Absender war die Adresse meines Vaters in der Stadt angegeben. Beide Adressen waren nicht mit der Hand geschrieben, sondern getippt, was für Vater typisch war. Allerdings hatte er sich wohl eine neue Schreibmaschine zugelegt, und das kam einem mittleren Wunder gleich: Seit ich ihn kannte, hatte er nie eine andere Schreibmaschine benutzt als seine alte Smith-Corona. Vielleicht hatte er das Paket von seinem Büro aus an Mutter geschickt und eine der Maschinen dort benutzt? Dann fiel mir das Datum des Poststempels ins Auge.
„Sechs Tage?", fragte ich ungläubig. „Dieses Päckchen hat sechs Tage gebraucht, um eine Entfernung von dreißig Meilen zurückzulegen?"
Mr. Windham zuckte entschuldigend die Achseln.
Mein Vater hatte mit keiner Silbe erwähnt, dass ein Paket für Mutter und mich unterwegs war. Nachdenklich schloss ich die Tür. Soweit ich wusste, hatte Vater meiner Mutter noch nie ein Paket geschickt, auf jeden Fall nicht mehr seit der Scheidung.
Was wohl drin sein mochte? Die Neugier brachte mich schier um, weswegen ich auf dem Rückweg zu Robin kurz beim Telefon in der Küche haltmachte. Mutter war im Büro. Sie war gleichermaßen erstaunt wie ich und sagte, sie würde auf dem Weg zu einer Hausbesichtigung kurz bei mir vorbeischauen. Ich konnte ihr anhören, wie freudig erregt sie war, was mich selbst wiederum gar nicht glücklich stimmte.
Robin schien in seinem Stuhl vor sich hin zu träumen, also nahm ich leise unsere Weingläser, um sie abwaschen und wegräumen zu können, ehe Mutter kam. Einer ihrer kritischen Blicke mit hochgezogenen Brauen hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Eigentlich war ich ganz froh über das Päuschen zum Luftholen, hätte ich mich doch gerade um ein Haar zu etwas ungeheuer Radikalem hinreißen lassen. Sich auszumalen, was hätte sein können, machte Spaß. Vielleicht beinah so viel Spaß, wie das Gewagte wirklich zu tun?
Robin, falls er denn wirklich eingenickt war, wachte auf, als Mutter durch die Gartenpforte trat.
Er sprang auf, begrüßte Mutter formvollendet und ließ ihr die Bewunderung zuteil werden, an die sie gewöhnt war. Wer hätte meine Mutter auch nicht bewundert? Sie war ganz Dame und Geschäftsfrau, vom perfekt frisierten Haar bis zu den schlanken, eleganten Beinen und sah in ihrem kostspieligen, champagnerfarbenen Kostüm aus, als sei sie eine Million Dollar wert. Das war sie auch. Mehrfach.
„Schön, Sie wiederzusehen, Mr. Crusoe", begrüßte sie meinen Gast mit ihrer rauchigen Stimme. „Es tut mir sehr leid, dass Ihr erster Abend in unserer beschaulichen Stadt ihnen gleich ein so unangenehmes Erlebnis bescherte. Lawrenceton ist ein wunderbarer Ort, Sie werden es bestimmt nicht bereuen, hierhergezogen zu sein und von hier aus in die Stadt zu pendeln."
Ich hatte ihr das Päckchen gereicht, und nachdem sie sich den Adressaufkleber angesehen hatte, riss sie die Verpackung auf, ohne ihr Gespräch mit Robin zu unterbrechen.
Unter dem bräunlichen Papier kam eine vertraute, schwarz-weiße Schachtel zum Vorschein. „Mrs. See's!", riefen Mutter und ich wie aus einem Munde.
„Pralinen?", fragte Robin leicht verunsichert. Als ich mich setzte, tat er es mir nach.
„Wunderbare Pralinen!", jauchzte Mutter. „Man kann sie drüben im Westen kaufen und im mittleren Westen auch, aber hier unten bei uns bekommt man sie nicht. Ich hatte eine Cousine in St. Louis, die mir immer zu Weihnachten eine Schachtel schickte, aber sie starb leider letztes Jahr. Ich dachte schon, wir würden nie wieder eine Schachtel Mrs. See's zu Gesicht bekommen!"
„Ich will die Schoko-Mandel-Berge!", meldete ich mich begeistert.
„Kannst du haben!", versicherte Mutter gönnerhaft. „Du weißt, ich mag
Weitere Kostenlose Bücher