Echte Morde
würde die Spiritualität mich überkommen, ich würde mich sozusagen anstecken können, wie jemand, der ganz bewusst einen an Masern erkrankten Nachbarn besucht, weil er selbst die Masern bekommen möchte. Manchmal trug ich beim Kirchgang gar Hut und Handschuhe, obwohl das schon arg an eine Parodie grenzt und es im Übrigen gar nicht mehr so einfach war, Handschuhe zu finden. Dies jedoch war kein Tag für Hut und Handschuhe, dazu gab sich der Morgen viel zu dunkel und regnerisch, und außerdem war mir nicht nach Rollenspiel zumute.
Beim Einbiegen auf den Parkplatz der presbyterianischen Gemeinde ging mir durch den Kopf, ob ich wohl Melanie Clark zu Gesicht bekommen würde, die ab und zu hier zur Kirche ging. Oder hatte man sie verhaftet? Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand die friedliche, grundsolide Melanie ernstlich des Mordes an Marnie Wright bezichtigte. Das einzig denkbare Motiv in diesem Fall wäre eine Affäre mit Gerald Wright gewesen. Nein, irgendwer - nicht irgendwer: der Mörder! - hatte Melanie einen üblen Streich gespielt.
Während der Gottesdienst an mir vorbeirauschte, dachte ich über Gott und Marnie nach. Klar war es fürchterlich, was ein anderes menschliches Wesen Marnie angetan hatte, und ich fühlte mich beim bloßen Gedanken daran ganz elend.
Andererseits musste ich mich aber auch der Tatsache stellen, dass ich für Marnie Wright zu deren Lebzeiten selten etwas anderes als Widerwillen empfunden hatte. Nun stand Marnies Seele vor Gott. Ja, ich glaubte daran, dass wir alle eine Seele hatten. Marnie stand vor Gott, wie auch ich eines Tages vor Gott stehen würde. Dieser Gedanke ging mir sehr nah, zu nah, also vergrub ich ihn tief in meinem Herzen, fest entschlossen, ihn später wieder hervorzuholen, wenn ich mich nicht mehr so schrecklich verletzlich fühlte.
Beim Verlassen der Kirche unterhielt ich mich mit den meisten Gemeindemitgliedern und hörte zu, was sonst noch so gesprochen wurde. Fast alle Unterhaltungen, die ich mit anhörte, drehten sich um Melanie. Die hatte anscheinend ein paar Stunden in Polizeigewahrsam verbracht, war dann aber von Bankston gerettet worden, der nicht nur vehement für sie eingetreten war, sondern noch dazu haargenau bezeugen konnte, wie und wo sie den Abend von Marnies Tod verbracht hatte. Man hatte Melanie gestattet, nach Hause zu gehen, und zumindest hier in der Kirche schien das Gefühl vorzuherrschen, sie sei aus dem Schneider und ihre Ehre wieder hergestellt.
Melanie selbst hatte ja nun keine Eltern mehr, aber Bankstons Mutter war Presbyterianerin und stand natürlich an diesem Tag auf den Kirchenstufen im Mittelpunkt des Interesses. Mrs. Waites, hellblond und blauäugig wie ihr Sohn und für gewöhnlich ebenso träge wie er, zeigte sich als wütende Löwin, wobei es ihr herzlich egal war, wer ihren Zorn mitbekam. Sie haderte mit der Polizei, weil die es gewagt hatte, „diese süße Melanie" auch nur eine Sekunde lang zu verdächtigen. Als könne das Mädchen einer Fliege etwas zuleide tun - ganz zu schweigen von einer erwachsenen Frau! Diese Polizisten, ekelhaft! Hatten sie es doch wirklich gewagt anzudeuten, zwischen Melanie und Mr. Wright sei vielleicht nicht alles so, wie es sein sollte! Keine zehn Pferde könnten Melanie und Bankston auseinanderbringen! Ein Gutes hatte diese furchtbare Sache laut Mrs. Waites immerhin: Bankston hatte es endlich geschafft, den Mund aufzukriegen und die entscheidende Frage zu stellen. Ja, in zwei Monaten würden er und Melanie heiraten. Nein, ein Datum stünde noch nicht fest, aber die frisch Verlobten wollten noch an diesem Sonntag eins festlegen, und Melanie hatte vor, gleich nächste Woche in Millies Geschenkladen Geschirr und Besteck auszusuchen und die entsprechenden Listen auslegen zu lassen.
Diese Ankündigung machen zu können, stellte für Mrs. Waites einen Augenblick höchsten Triumphes dar. Bankston war das letzte ihrer Kinder, das noch unverheiratet war, obwohl sie schon seit Jahren versuchte, ihn unter die Haube zu bringen. Bankston hatte sie dabei wenig unterstützt. Er schien geneigt abzuwarten, bis ihm die Richtige über den Weg lief, statt selbst aktiv nach einer solchen Frau zu suchen. Ein Verhalten, das Mrs. Waites Geduld auf eine harte Probe gestellt hatte.
Also würde ich eine Gabel oder eine Salatschüssel aussuchen müssen. Nicht zum ersten Mal, ich hatte schon unzählige solcher Geschenke ausgewählt, in mindestens hundert verschiedenen Mustern. Leise seufzend begab ich mich
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