Echte Morde
Messer, mit dem Pettigrue erstochen worden war? Wie schaffte es der Mörder nur, in so kurzer Zeit so viele Dinge zu erledigen? Dazu brauchte man doch sicher eine Menge nicht nur körperlicher, sondern auch seelischer Energie. Irgendwann musste der Täter doch aufhören zu morden, einfach, weil er es nicht mehr schaffte!
Lustlos legte ich ein wenig Make-up auf, nur damit es nicht den Anschein hatte, ich würde jeden Augenblick aus den Latschen kippen, und fasste mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ich zog einen dunkelblauen Rock an, dazu einen tiefroten Rollkragenpullover und eine dunkelblaue Strickjacke.
Alles in allem sah ich sah aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve.
Ich wollte an diesem Morgen nur eins: unentdeckt in die Bibliothek gelangen und herausfinden, ob ich auf einen gewöhnlichen Arbeitstag hoffen durfte. Auf dem Parkplatz der Bibliothek stand zu meiner ungeheuren Erleichterung nicht ein unbekanntes Auto. Das Interesse an meiner Person klang anscheinend schon ab. Vielleicht hatte ich ja weiterhin Glück, und ein ganz normaler Arbeitstag erwies sich nicht als Ding der Unmöglichkeit.
Benjamin Greer, wurde mir bei der Arbeit zugetragen, hatte am Morgen eine Pressekonferenz einberufen und angekündigt, die kommunistische Partei werde einen neuen Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters ins Rennen schicken: ihn selbst.
Anscheinend war er der letzte jetzt noch verbliebene kommunistische Einwohner Lawrencetons. Benjamin Kommunist? Ich glaubte keine Sekunde lang daran, dass der Mann auch nur über einen zusammenhängenden politischen Gedanken verfügte.
Aber solange das Auge der Öffentlichkeit auf unserem Städtchen ruhte, war ihm jede Menge Aufmerksamkeit gewiss. Was wohl nach den Wahlen aus ihm werden würde? Würde es ihm je wieder reichen, hinter der Fleischtheke eines Supermarkts zu stehen?
Die Sache mit Benjamin erfuhr ich von Lillian Schmidt, die sich an diesem Morgen in meinen Augen auch sonst noch unerwartet mit Ruhm bekleckerte: außer dass sie mir von der Pressekonferenz erzählte, arbeitete sie stundenlang Seite an Seite mit mir, als sei nichts vorgefallen. Fast hätte ich gefragt, warum sie sich so anständig verhielt, mir wollte nur keine höfliche Formulierung für eine solche Frage einfallen. (Warum bist du so nett zu mir, wir mögen einander doch gar nicht? Du bist doch sonst so unsensibel, wie kommt es, dass du plötzlich Taktgefühl in Reinkultur demonstrierst?)
Ich zog mir gerade die Strickjacke an, um zum Essen zu gehen, als Lillian sagte: „Ich weiß, dass du mit diesen ganzen schlimmen Sachen nichts zu tun hast, und ich finde es echt nicht fair, dass du das alles miterleben musst. Dieser Polizist neulich, der mich gefragt hat, ob du wirklich den ganzen Morgen mit mir zusammen Bücher repariert hast — ich habe beschlossen, es reicht nun. Es reicht ein für allemal." Da waren wir zur Abwechslung mal einer Meinung. „Danke", sagte ich.
Nach der Unterhaltung mit meiner Kollegin fühlte ich mich ein wenig besser. Ich fuhr auf einem anderen Weg als sonst heim, um nicht am Haus der Buckleys vorbeizumüssen. Beim Mittagessen sah ich mir die Nachrichten an und durfte miterleben, wie Benjamin seine fünf Minuten im Rampenlicht genoss.
Den Nachmittag hatte ich frei, da ich abends für den Spät-dienst eingetragen war. Sobald ich allein zu Hause saß, merkte ich deutlich, wie weise die Entscheidung gewesen war, morgens zur Arbeit zu gehen. So sehr ich meine Arbeit liebte, meine freien Tage liebte ich noch mehr. Nur an diesem Tag nicht.
Nachdem ich mich umgezogen hatte und Jeans und Turnschuhe trug, konnte ich mich nicht entscheiden, wie ich den Nachmittag verbringen wollte. Ich kümmerte mich um meine Wäsche, ich las ein bisschen, ich probierte eine neue. Frisur aus, die ich aber, kaum war sie halb vollendet, auch schon wieder ausein-andernahm. Danach waren meine Haare total verheddert, und ich musste sie endlos auskämmen, um wieder Ordnung hineinzubringen. Hinterher standen sie mir wie eine elektrisch aufgeladene Wolke um den Kopf, und ich sah aus wie nach einer Begegnung mit einem Marsmenschen.
Ich rief im Krankenhaus an und erkundigte mich, ob ich Lizanne besuchen dürfe, aber die Schwester auf ihrer Station sagte, sie würde nur Besuche der Familie empfangen. Dann fiel mir ein, dass ich Blumen für die Beerdigung ihrer Eltern bestellen musste und wählte Sally Allisons Nummer bei der Zeitung, um herauszufinden, wann diese Beerdigung stattfinden sollte. Zum ersten
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