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Echtzeit

Titel: Echtzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
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nüchtern und voll ausgeschlafen ist. Die Welt wird eine andere. Nur durch die eigene Körperchemie. Ist das nicht erstaunlich? Das heißt also in der Konsequenz, dass es keine absolute Welt gibt, sondern nur meine Interpretation von der Welt, so wie ich sie am heutigen Tag erlebe. Anders gesagt: »Dem Depressiven strahlt die Sonne nicht, sie blendet ihn.« Den Satz habe ich in einem Kalender gefunden. In dem Kalender, in dem ich die ersten Rendezvous mit Stefan eingetragen habe.
    Und da bin ich eben so da gesessen und habe verglichen. Wie mein Denken abläuft. Den Unterschied habe ich mir ganz genau angesehen. Wie es ist, wenn ich Zeit zum Denken habe und dabei auf eine bilderlose Wand starre … stundenlang … oder wie es ist, was ich denke, wenn ich in der Öffentlichkeit bin. Das war sehr interessant.
    Ich habe mich erstaunlicherweise recht wohl gefühlt. Nicht euphorisch. Sondern irgendwie als Teil … Teilchen. Besser gesagt. Ich verstehe jetzt etwas mehr, warum es die Obdachlosen so sehr zu Bahnhöfen zieht. Die vielen anonymen Passanten. Das ist es.
    Das unbestimmte Gefühl, da eine Art Mitglied zu sein. Von dem, was man »die Gesellschaft« nennt. Ich meine, in einem Park ist es doch im Sommer viel netter. Man kann auf der Wiese liegen und dösen. Unter schattigen Bäumen seinen Korn trinken und hat Ruhe. Aber nein … der Mensch umgibt seine Einsamkeit gerne mit der Vermutung, er wäre ohnehin noch ein Mitglied. Ein Teilchen. So ist das bei uns Obdachlosen. Kleiner Scherz.
    Ich weiß jetzt, glaube ich, warum ich so lange brauche, um von Stefan loszukommen. Es ist die Erinnerung. Nein, nicht die Erinnerung an ihn … das meine ich nicht. Ich meine die Erinnerung, die es in mir ausgelöst hat. Verstehst du … Dazu muss ich dir eine kleine Geschichte erzählen, die ich mit ihm erlebt habe. Warte, ich hole mir eine Zigarette und einen Averna auf Eis, dann erzählt es sich gemütlicher. Bin gleich wieder da … lauf nicht weg. Kleiner Scherz.

    So! Hallo Isabell! Da sind wir wieder. Ich, meine Zigarette und mein Averna mit fünf Eiswürfeln. In einem großen, runden Whiskyglas. Das mag ich so sehr, weil die Eiswürfel alle Platz haben, um im Averna zu versinken. Salute, Isabell! C’ent anni! … Auf dich! So … gut … sehr gut.
    Also hör zu. Mit Stefan ist das eine sehr eigenartige Sache gewesen. Vor allem eine Nacht, nachdem wir uns schon drei Wochen gekannt haben. Wir sind in unserem großen, weißen Bett gelegen … um drei Uhr früh und waren total gelöst und entspannt und … rundherum glücklich und zufrieden. Du musst dir vorstellen … wir sind in den ersten drei Wochen praktisch nie aus dem Bett gekommen … unglaublich, was wir aufgeführt haben, unglaublich auch, was er für eine Dauerlust hatte … auf mich … auf wen sonst. War ja auch sonst niemand da … noch nicht. Wir sind aufgewacht und er war in mir drinnen. Wir haben Frühstück gemacht und er hat mich in der Küche an die Wand gestellt. Während dem Frühstück bin ich auf ihm gesessen und nach dem Frühstück hat er mich ins Bett gepackt und stundenlang verwöhnt. »Damit ich nicht vergesse, wie sehr er auf mich steht.«
    Das war sein Lieblingssatz … immer … danach. Na gut … wir haben uns also drei Wochen lang um den Verstand gebumst, um es einmal beim Namen zu nennen. Ist ja auch in Ordnung. Kennt man ja aus vielen Filmen. Was man nur nicht aus Filmen kennt, ist, wie es mir dabei ging. Also es fängt schon einmal damit an, dass er der erste Mann war in meinem Leben, bei dem es mir gekommen ist. Du weißt, wovon ich rede. Wie oft haben wir zwei uns gefragt, ob es besser ist, den Typen den Orgasmus vorzuspielen … oder nicht?! Weil sie dann ja keine Ruhe geben … wenn man ihn nicht hat oder sie zumindest im Glauben einschlafen können, man hatte ihn … und wenn sie befürchten, dass sie nicht dein Held waren, bei dem du so kommst »wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben«, dann hast du am nächsten Morgen einen permanent frustrierten Vorstadtkater raunzen. In jedem kleinen Satz. In jedem kleinen Satz schwingt dann der unbewusste Vorwurf durch, dass du als Frau nicht genügst, weil du bei einem Helden wie ihm nicht kommst.
    Wir wissen, von welchem Elend wir reden, Isabell. Gut … Und bei ihm war das nicht so … absolut nicht … von der ersten Nacht an … unglaublich … und das ist nicht nur so geblieben … es wurde immer mehr und länger und tiefer und … und einfach immer schöner. In ebendieser Nacht bin ich

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