Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
von der Treppe. Ihre Finger zitterten. »Nein, nein,
machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Es ist nur der Kreislauf. Auf jeden Fall
bleibe ich besser hier unten. Mein Sohn ist bei der Arbeit. Die Türen sind nicht
abgeschlossen. Sie können überall reinschauen. Bitte gehen Sie mit hinauf, Herr
Faber!«
Der Makler
sprang dienstbeflissen vor. »Selbstverständlich, Frau Medzig. Wenn die Herrschaften
bitte mitkommen möchten.«
Der Architekt
folgte ihm. Lutz zögerte auf der unteren Stufe.
Norma stützte
den Arm der alten Dame. »Sieh dich oben in Ruhe um, Lutz! Ich bleibe bei Frau Medzig.
Kommen Sie, Sie sollten sich hinsetzen.«
In der Küche
stand ein altmodisches Kanapee, das Norma beim Rundgang aufgefallen war. Gemächlich,
Schritt für Schritt, durchquerten sie die Diele und den sich anschließenden kleinen
Flur, bis sie die Küche erreichten. Dort sank Henriette Medzig auf das Sofa nieder.
Es war hoch gepolstert, sodass ihre Zehenspitzen den Boden nicht berührten.
»Das ist
nur der Kreislauf«, wiederholte sie. »Mein niedriger Blutdruck. Kaffee täte mir
gut.«
Norma hantierte
mit der Kaffeemaschine und füllte Wasser und Kaffeepulver auf. »Haben Sie heute
etwas gegessen? Wie wäre es mit einem Brot?«
Henriette
starrte sie an, als sei Essen das Letzte, was ihr in den Sinn kommen könnte. Norma
wartete die Antwort nicht ab, sondern suchte zusammen, was sie für ein Schinkenbrot
brauchte, und stellte den Teller auf das Kanapee.
Nach kurzem
Zögern griff Henriette zu. »Ich musste früh raus, um etwas in der Stadt zu erledigen.
Das Frühstück habe ich ausgelassen. Na, so was! Ich bin wohl ziemlich durcheinander.
Möchten Sie nicht auch eine Schnitte? Den Schinken habe ich vom besten Metzger in
Schierstein.«
Norma begnügte
sich mit Kaffee. »Wie lange wohnen Sie hier?«
Mit der
Heirat im März 1962 sei sie eingezogen und habe das Haus 1968 zum ersten Mal für
ein paar Tage verlassen, als Oliver geboren wurde. »Ewald wollte nie fort vom Hof,
und an Urlaub war nicht zu denken. Dabei hätte ich so gern meinen Onkel und meine
Tante besucht. Die beiden besaßen ein Weingut an der Mosel. Als junges Mädchen bin
ich dort einen ganzen Sommer lang zu Besuch gewesen. Es war nicht immer leicht mit
Ewald, müssen Sie wissen. Er war 12 Jahre älter, und ich ein dummes Ding.«
Norma hatte
sich an den Tisch gesetzt, ein uriges Möbelstück aus dunklem, abgestoßenem Eichenholz,
das den Eindruck erweckte, mit den allerersten Bewohnern in dieses Haus eingezogen
zu sein. In der Ecke am Fenster hing ein großes Kruzifix. Auf der Fensterbank stand
ein museumsreifes Telefon.
»Waren Sie
als junges Paar denn nicht … verliebt?«
Henriette
lachte leise. »Ach, was glauben Sie! Liebe? Die Zeiten waren nicht so, dass man
an Liebe dachte. Ewald war eine gute Partie, die beste, die ein Mädchen wie ich
ergattern konnte. Meine Eltern waren einfache Leute. Und er war ein stattlicher
Mann. Ich war 17, als wir verlobt wurden. Wir haben uns auf der Hochzeit meiner
Cousine kennengelernt. Können Sie sich den Stolz meiner Eltern vorstellen, als Ewald
um meine Hand anhielt? Wenn ich es mir genau überlege: Mich hat man gar nicht gefragt.«
»Sie haben
mit 17 geheiratet?«
Henriette
baumelte mit den Füßen. »Nein, nein! Ich war 19. Wir waren verlobt, als ich den
Sommer an der Mosel verbrachte.«
Norma lächelte.
»Dann musste Ihr Verlobter sein Weingut verlassen, wenn er Sie besuchen wollte.«
Henriette
blieb ernst. »Kein einziges Mal haben wir uns gesehen. Und das war auch gut so.«
Was daran
gut gewesen sein sollte, ließ sie offen. Nach der großen Liebe klang es jedenfalls
nicht.
Der Makler
ließ sich kurz blicken. Sie seien im Obergeschoss fertig und würden gern ein weiteres
Mal den Gewölbekeller sehen.
Erschrocken
hielt Henriette mit dem Schlenkern inne. »Oh je, ich habe den Schlüssel verlegt.
Was machen wir jetzt? Ich lasse keinesfalls die Tür aufbrechen.«
Sie wurde
sehr aufgeregt, als hinge der Verkaufserfolg von der Kellerbesichtigung ab. Norma
beruhigte sie. Lutz habe den Keller bereits gesehen, und der Architekt könnte in
den nächsten Tagen wiederkommen. Der Schlüssel würde sich bestimmt finden.
»Also belassen
wir es heute bei den Nebengebäuden«, sagte der Makler resigniert. »Möchten Sie mitkommen,
Frau Tann?«
»Später.
Gehen Sie nur vor!«
Der Makler
zog sich zurück. Norma schenkte Kaffee nach.
Henriette
brachte die Beine erneut in Bewegung und plauderte über ihren Ewald. »Er war
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