Egeland, Tom
Jahrhunderten zerfurcht. Der Mond leuchtet wie eine japanische Papierlampe durch das Laub. Die überraschend kalte Wüstenluft hat eine mild berauschende Wirkung. Als stünde hinter der nächsten Ecke ein verwunschener Kaktus, der betäubende Gase und Säfte abgibt.
» Früher war hier einmal eine natürliche Oase «, sagt Peter. Er atmet tief durch die Nase ein, als wolle er die Düfte schmecken. » Es waren die Mönche, die hier die Bäume gepflanzt haben. Und die sie gepflegt haben. Es ist ein Wunder, dass hier draußen überhaupt etwas wächst. «
» Was waren das für welche? Die Mönche? «
» Eine Gruppe Juden und Christen. Umstürzler, Aufrührer. Sie wollten eine neue Gemeinschaft gründen. « Er lacht, sein Lachen hat einen giftigen Unterton.
Mein Blick durchforscht das Dunkel. Von hier oben sieh t d as Institut wie ein Raumschiff aus, das eine Bruchlandung gemacht hat. Glühend und langsam schmelzend ergießt es sich über die Landschaft. Wie ein weit im voraus geplanter Filmtrick schießt eine Sternschnuppe über den Himmel.
» Was für ein Anblick! «, sage ich.
» Streng genommen nicht mehr als ein Sandkorn, das in der Erdatmosphäre verglüht «, sagt Peter.
Alles ist dunkel, groß, still. Die Stimmung weckt in mir eine gewisse Vertrautheit.
» Wer bist du, Peter? «, frage ich.
Grinsend zieht er einen Flachmann aus seiner Jackentasche. Er dreht den Deckel ab und reicht mir das flache, in Leder eingehüllte Fläschchen.
» Im großen Zusammenhang? «
» Lass uns da beginnen. «
» Absolut niemand «, sagt er.
Ich trinke. Der Cognac zieht einen brennenden Schweif hinter sich her.
» Und im Kleinen? « Ich reiche ihm die Flasche mit einem bohrenden Blick.
Peter nimmt einen Schluck, schüttelt sich und trinkt dann noch einmal. » Im Kleinen bin ich die fleißigste Biene hier im Bienenstock «, erläutert er.
Wir sehen einander an. Er zwinkert mir zu, als sehe er ein, dass diese Antwort nicht wirklich eine Antwort war.
» Du scheinst viel über den Schrein zu wissen. «
» Theorien «, sagt er leise. » Ich bin Wissenschaftler. Es ist mein Leben, so etwas zu wissen. «
» Aber was du weißt, ist so präzise. «
» Wer hat gesagt, dass ich es weiß? Ich rate. «
» Dann lass uns weiterraten «, sage ich.
» Über was denkst du nach? «
» Wenn es den Shrine of Sacred Secrets wirklich gibt un d w enn es dieses Reliquiar ist, das wir beim Kloster Værne gefunden haben … «, beginne ich und halte inne, während ich ihn ansehe, » warum ist es dann so wichtig für bestimmte Leute, sich diesen Schrein zu sichern? «
» Sie interessieren sich wohl eher für den Inhalt. «
» Wer? «
» Das können viele sein. Forscher. Sammler. Der Vatikan. Geheime Gruppierungen. «
» Und warum? «
» Stell dir doch mal vor, dass die Botschaft in diesem Manuskript wirklich delikater Natur ist. «
» Zum Beispiel? «
» Zum Beispiel etwas, das die Dogmen betrifft. «
» In welcher Weise? «
» So, dass man die Bibelgeschichte umschreiben müsste. «
» Na und? «
» Jetzt stellst du dich dumm. Die Bibel beinhaltet per definitionem keine Fehler. Man kann sie nicht ändern. «
» Aber hätte es denn wirklich eine praktische Bedeutung, wenn dieses Dokument ein paar der Vorstellungen auf den Kopf stellen würde? «
Er runzelt die Stirn. » Das meinst du doch nicht im Ernst, mein Freund! Denk nach! Die christlichen Werte könnten umfallen. Der Glaube der Menschen könnte ins Wanken geraten. Die Position der Kirche wäre bedroht. Solche Kleinigkeiten. «
Ich pfeife. Der Ton ist leise und zittrig.
» In der äußersten Konsequenz! «, fügt er hinzu. Er nimmt den Flachmann, trinkt, während er mich ansieht und schluckt schwer. » Aber das alles sind bloß Spekulationen. «
» Spannende Theorien! «
» Die Geschichte ist spannend. Nicht zuletzt, weil auch sie eine Interpretation ist. «
» Gedeutet mit den Augen der Nachwelt. «
» Genau! Für seine Zeitgenossen war Jesus Christus in erster Linie eine politische Figur. «
» Und Gottes Sohn. «
» Na ja. Es war eher die Zeit danach, die auf seine Göttlichkeit abgehoben hat. «
» Die Zeit danach? «
» Lange danach. Um Jesus in der Geschichte zu platzieren, musst du dich sowohl mit dem tausendjährigen Warten des Judentums auf den Messias auseinander setzen als auch mit der politischen Situation in Judäa und Palästina. « Er leckt sich die Lippen und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab.
» Was das angeht, bin ich kein Experte
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