Ehre sei dem Vater (German Edition)
schreckliche Vorwürfe. Dabei hatte
sie noch vor kurzem den Eindruck gehabt, dass er die Sache endlich überwunden
hatte. Als sie selbst Hilfe brauchte, war er so stark gewesen, so fürsorglich.
Wie konnte sie nur vergessen, wie labil ihr Bruder war. Die Geldsorgen hatten
sich ja auch nicht in Luft aufgelöst, wie also sollte sich sein Kummer so
schnell verflüchtigt haben. Sie hatte ihm erst vorgestern hundert Euro geliehen
und hoffte nun, dass er das Geld nicht wieder verspielt oder gar versoffen
hatte. Nun war auch sie ernstlich an ihre finanziellen Grenzen gestoßen. Für
die Renovierungen, die sie in ihrem Haus erst vor einigen Jahren durchgeführt
hatte, waren Kredite notwendig gewesen. Diese waren damals leicht zu bewältigen
gewesen, nun aber, da das Arbeitslosengeld der Notstandshilfe gewichen war und
keine Einnahmen in Sicht waren, rissen sie ein immer größer werdendes Loch in ihr
Konto. Seit Monaten hatte ihr Girokonto keine schwarzen Zahlen mehr gesehen,
und nicht zum ersten Mal wollte der Bankomat heute kein
Geld mehr ausspucken. Dabei war erst der Zwanzigste….
Mit einem Seufzer drehte sich ihr Bruder auf
die andere Seite. Er hatte ihre Anwesenheit noch nicht einmal bemerkt.
Wahrscheinlich würde er noch bis morgen früh brauchen, um zu realisieren, wie
weit er wieder gegangen war. „Wer weiß“, dachte sie, „irgendwann wird ihm sein
Zustand dann vielleicht nicht einmal mehr peinlich sein.“ Darauf wollte sie
nicht mehr warten. Eva hatte Angst, dass sich sein Alkoholkonsum zu einem noch
größeren Problem auswachsen könnte als seine Spielsucht. Sie kannte die
Problematik mit Alkoholkranken nur aus den Erzählungen von Verena, deren
Verflossener ihr nichts als Kummer bereitet hatte. Der Vater von Marie hatte durch
seinen Alkoholismus alles zerstört, was ihm früher wichtig war im Leben. Er
hatte seine Frau und seine Tochter immer mehr vernachlässigt und doch nie
wahrhaben wollen, dass der Alkohol seine eigentliche Geisel war. Alle hatte er
beschuldigt, ihn nicht verstehen zu wollen, ihm seine kleinen Freiheiten nicht zu
gönnen. Dabei war er unausstehlich und eklig geworden, ohne es selbst zu
merken. Schließlich hat er es sogar geschafft, Mutter und Kind gegeneinander
auszuspielen und war am Ende nicht der einzige Verlierer in dem von ihm
angezettelten Spiel. Doch Verena und Marie hatten noch eine Chance miteinander,
sein Zug dagegen war abgefahren. Sie sah den Mann noch ab und zu, aber es war
ihr zuwider, ein längeres Gespräch mit ihm zu führen, weil er außer
Selbstmitleid nichts aus seinen Fehlern gelernt hatte. Eva wollte auf keinen
Fall, dass ihr Bruder so enden würde. Die einzige Rettung aus dieser
ausweglosen Situation wäre Geld, viel Geld. Mehr Geld, als sie jemals auf legalem
Weg erwirtschaften könnte. Es sei denn, sie könnte es endlich mit ihren
Gedichten zu etwas bringen. Ihre Mutter würde jetzt wahrscheinlich wettern,
wofür sie ihr denn ein Studium ermöglicht hätte. „Nichts, rein gar nichts
kriegst du auf die Reihe!“, pflegte sie zu schelten. Die Wahrheit war, dass Eva
ganz einfach keine Lust auf Bilanzbuchhaltung hatte. Die schnöden Zahlen konnte
sie gar nicht mehr sehen und wahrscheinlich haben die Leute, bei denen sie sich
persönlich für so einen Job vorgestellt hatte, das auch sofort gemerkt. Eva
sank auf das Sofa neben ihrem Bruder nieder. „Warum kann nichts so klappen, wie
ich mir das vorstelle. Was ist mit meinem Traum von einem gemeinsamen Leben mit
Martin? Und warum musste der alte Seidl verschwinden, bevor er gezahlt hatte?
Müssen all meine schönen Träume zunichte gemacht werden?“
In diesem Moment läutete im Parterre das
Telefon. „Wer kann das sein, um diese Zeit?“ Eva erhob sich, strich sich eilig
durch ihre kurzen Haare, als könnte irgendjemand am Telefon ihre Frisur
kontrollieren und rannte zum Apparat.
Es war Verena. Aufgeregt erzählte sie, was
ihr Barbara von der Festnahme Karl Eders erzählt
hatte. „Das ist doch Unsinn!“, sagte sie. „Du kennst den verrückten Eder doch
selbst, was könnte der schon mit Seidls Verschwinden zu tun haben. Der kann
doch noch nicht einmal bis zehn zählen. Wie sollte der denn eine Erpressung
schreiben?“
„Eine Erpressung? Wie kommst du denn darauf?
Ich habe nichts von einer Erpressung gesagt“, hallte es verwundert aus dem
Apparat.
„Ich, ich meinte ja nur. Wäre es nicht
möglich, dass er verschwunden ist, weil ihn jemand erpresst hatte?“ Eva klang
kleinlaut.
„Ich glaube, du siehst
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