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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gailly
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ein wenig überstürzt, aber wenigstens einmal könntest du dich um den Kater kümmern, schließlich gehört Dingo dir, du hast ihn so getauft, nicht ich, du hast ihn mir dagelassen, als du ausgezogen bist, angeblich um, nun ja.
    Ja, ich weiß, wir wollten deine Großmutter besuchen. Ich habe sie angerufen. Ich habe ihr gesagt, deinem Vater gehe es nicht gut. Sie hat Verständnis. Wir besuchen sie nächstes Wochenende.
    Hast du die Schlüssel?
    Die Adresse und die Telefonnummer vom Hotel lege ich nebens Telefon. Wie geht’s Anne?
    Jamie Nardis sah Anne an. Mein Vater fängt wieder an mit seinen Geschichten, sagte er. Suzannes und Simons Sohn war zu Hause ausgezogen. Wegen mentaler Grausamkeit. Unverträglichkeit der Stile. Er, das bedeutete rasierter Schädel, Hard Rock und T-Shirts mit Totenköpfen. Seine Eltern, das bedeutete geordnetes Leben, sonntägliche Besuche bei der Großmutter, Ruhe, klassische Musik. So konnte es nicht weitergehen. Gegen regelmäßige Unterhaltszahlungen war er ausgezogen.
    Er schloss gerade ein langes Studium ab. Wenn man es genau wissen wollte, er schrieb seine Doktorarbeit. War mit Anne zusammengezogen. Eine brillante junge Frau. Ein nettes Mädchen. Eine hübsche Brünette, die sich bereits ihren Lebensunterhalt verdiente. Anne sah Jamie an. Sie dachte: Hoffentlich ist er nicht wie sein Vater.
    Simon stand mit Debbie im Laden und musterte ein Unterhosenmodell. Francine, die Verkäuferin in der Herrenabteilung, betrachtete Simons neue Hose mit den aufgekrempelten Beinen. Sie überlegte, ob sie ihm anbieten sollte, sie rasch zu säumen. Wenn er mit der Unterhose fertig ist, dachte sie. Simon prüfte sie von allen Seiten. Die müsste gehen, dachte er, aber, noch im Zweifel:
    Darf ich sie mal anprobieren? Natürlich, sagte Francine, da ist die Kabine. Simon zog sich mit der Unterhose in die Umkleidekabine zurück. Zwei Minuten später tauchte er, puterrot, ohne sie wieder auf. Ich behalte sie gleich an.
    Francine konnte nicht sagen: Sie haben einen sehr guten Geschmack, Monsieur. Oder: Das steht Ihnen aber besonders gut. Oder: Sie hätten keine bessere Wahl treffen können, Monsieur. Sie konnte nichts sagen. Sie sah Simon an und seine leeren Hände. Dann verlagerte sich der staunende Blick auf den Vorhang der Umkleidekabine. Suchen Sie nicht nach ihr, sagte Simon, sie trocknet gerade auf einem Felsen.
    Sie trocknete nicht mehr. Sie trieb. Die Flut hatte sie mitgenommen. Sie trieb grauweiß wie nasses Papier und fließend wie eine Qualle. Es war 14.10 Uhr. Der Zug des Vergessens rollte Richtung Paris.
    Das Meer, hoch aufgelaufen, platt, getrübt von Algen, Holzstücken, hier und da von Farbtupfern, hier schwarzer Teer, da ein über Bord geworfener gelber Kanister, das Rot einer gekenterten Wanne, schien den menschenleeren Strand zu fragen: Was soll ich damit anfangen? Lass alles liegen, antwortete der Strand, wir räumen’s schon weg.
    Debbies Cabrio, deutsch und blau, wartete längs zur Düne, mindestens ebenso elegant wie ein flirtendes, nüsternreibendes Flaubertsches Pferdegespann.
    Steigt es noch oder geht es schon wieder zurück?, fragte Simon. Ich weiß nicht, sagte Debbie, ich glaube, es geht schon wieder zurück. Simon sah seine Unterhose im Wasser treiben. Auf der Rückfahrt, dachte er, könnten wir bei der Großmutter vorbeischauen. Debbie nahm seine Hand.

17.
    Suzanne hasste Wald. Sogar meinen Park auf dem Lande, der an sich schon ein kleines Wäldchen ist, mied sie, noch nicht einmal in Begleitung wagte sie sich hinein. Simon hingegen liebte ihn. Meine Frau Jeanne ging mit ihm darin spazieren. Suzanne blieb bei mir. Wir plauderten. Ich betrachtete sie. Ich fragte mich, warum sie Angst hatte und vor allem, wovor. Sicher eine alte Geschichte, sagte ich mir, ein alter Albtraum, die Geschichte von einem im Wald verirrten kleinen Mädchen. Frag sie, sagte ich mir.
    Sie antwortete mir, sie hasse es, sich gefangen zu fühlen, nicht verirrt, gefangen. Wer keinen Ausweg mehr aus einem Wald finde, laufe durchaus Gefahr, dort gefangen zu bleiben, gab ich zu bedenken. Natürlich meinte ich es nicht als Metapher für die Ehe, doch Suzanne reagierte so darauf: Selbst bei Simon, sagte sie mir, wenn er mich festhält, mich fest in den Armen hält, ertrage ich es nicht, ich ersticke, ich bekomme Angst.
    Und entsprechend schmerzlich ist mir der Gedanke, dass meine kleine Suzie ihre letzten Stunden als Gefangene eines Waldes erlebte. Sie muss sehr große Angst gehabt haben. Vielleicht aber

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