Ein Alptraum für Dollar
Der Major weiß das natürlich — und er weiß auch, daß nur er das Signal geben kann und geben muß! Über dem Meer erstreckt sich jetzt eine kompakte Wolkenmasse. Aber genau über der Stadt, über Hiroshima — da gibt es ein riesiges, sonniges Loch zwischen den Wolken, mit einem Durchmesser von etwa 20 Kilometern. Eatherley kreist nun immer niedriger über der Stadt — er kann die Hauptstraßen gut erkennen und auch die grünen Flächen der Parkanlagen. Hiroshima ist in ganz Japan für die herrliche Pracht seiner Trauerweiden berühmt.
Soll er jetzt seinen Spruch funken? Er kurvt lieber noch einmal am Rande der Wolken. Vielleicht werden sie sich zusammenschließen und die Stadt bedecken? Aber nein — nichts bewegt sich, nichts verändert sich, als wäre das Todesurteil dieser Stadt für heute morgen eine unabänderlich beschlossene Sache.
Major Eatherley schaltet sein Gerät ein und funkt den verschlüsselten Code — diese paar Buchstaben und Ziffern, die er niemals in seinem Leben vergessen wird: »Y2 — Q2 — B2 — C1.« Im Klartext bedeutet es: »Niedrige Bewölkung: zwei Zehntel — mittelhohe Bewölkung: zwei Zehntel — hohe Bewölkung: zwei Zehntel — Beurteilung: Ziel 1.«
Mehr nicht — und das genügt.
Schon einige Minuten später startet Colonel Paul Tibbetts mit dem Bombenträger B 29, den er liebevoll »Enola Gay« getauft hat — mit dem Namen seiner Mutter. Und im Flugzeug kümmert sich Major Ferebee, der Bombenschütze, der die Waffe auslösen muß, um »Little Boy« — ein niedlicher Spitzname für die erste, kleine Atombombe der Welt!
Um Punkt 8 Uhr 15 Ortszeit gibt es 100 000 Tote in Hiroshima. Oder sind es 130 000? Vielleicht auch 200 000... Über die genaue Zahl sind sich die Experten heute noch nicht einig. In einem Punkt allerdings stimmen sie alle überein: In den Jahren danach starben noch Tausende und Abertausende von Menschen an den Folgen der Verbrennungen und radioaktiven Strahlungen.
Übrigens, schon am 8. August, also zwei Tage danach, kapituliert Japan. Dennoch fällt die zweite Atombombe am darauffolgenden Tag, am 9. August — auf Nagasaki. Erst am 2. September 1945 erhält MacArthur endlich die offizielle Kapitulation der Japaner.
Die Rückkehr in die Vereinigten Staaten wird für Major Eatherley zum Alptraum. Von aller Welt wird er als Held gefeiert. Und gerade das kann er nicht ertragen. Erwehrt sich mit aller Kraft dagegen und versucht — wo und wann immer er kann —, das Nichtwiedergutzumachende den ahnungslosen Menschen in seinem Land wenigstens so zu schildern, daß auch sie Angst bekommen und begreifen, was eigentlich geschehen ist, was eigentlich von nun an immer und überall wieder passieren kann. Er veranstaltet Friedensmärsche und fordert seine Mitbürger auf, gegen die Atombombe zu demonstrieren.
Die »Vereinigung der Überlebenden in Hiroshima« schickt ihm ein Telegramm mit Hunderten von Unterschriften:
»Mister Eatherley, wir verurteilen Sie nicht. Sie haben als Soldat Ihren Befehl ausgeführt. Wir möchten uns bei Ihnen für den Mut bedanken, mit dem Sie jetzt gegen den Atomkrieg kämpfen. Kämpfen Sie weiter in diesem Sinne!«
Kämpfen? Wer versteht überhaupt seinen Kampf in diesen fröhlichen Nachkriegsjahren? Nicht einmal seine Frau Gloria. Sie hatten während des Krieges geheiratet, und als er zurückkehrte, versuchten sie, glücklich miteinander zu leben. Aber wie? Jede Nacht wachte Claude schreiend auf, von Alpträumen verfolgt. Dann begann er zu trinken — genauer gesagt: zu saufen! Und er stopfte sich mit Beruhigungspillen voll. Das Geld, das die Familie so dringend benötigte, nachdem Major Eatherley aus »Gesundheitsgründen« aus der Armee entlassen wurde, schickte er anonym in Zehn- und Zwanzigdollarscheinen an die Überlebenden von Hiroshima. Schließlich wurde er — zur Beobachtung und Erholung, wie es immer so schön heißt — in eine Nervenanstalt eingeliefert.
1954 reichte seine Frau die Scheidung ein. Claude Eatherley hat sie nicht wiedergesehen — und auch nicht seine beiden Töchter Claudette und Annette. Wahrscheinlich war es auch besser so, denn der Major litt unter einem so schweren Schuldkomplex, daß er nach und nach den Verstand verlor.
An all das erinnert er sich in seiner Zelle in Dallas.
Zum Beispiel an den Tag, als Präsident Truman der Nation stolz erklärte, Amerika besäße jetzt eine noch viel stärkere Waffe als die Bombe von Hiroshima: Die H-Bombe! Daraufhin wollte sich Major Eatherley das Leben
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