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Ein Braeutigam und zwei Braeute

Ein Braeutigam und zwei Braeute

Titel: Ein Braeutigam und zwei Braeute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isaac Bashevis Singer
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ich schnell und auch die Gemara.
      In der Krochmalna hatte ich einen Jungen kennengelernt, der in einer ähnlichen Situation war. Er war ein paar Jahre älter, schwarz wie ein Zigeuner, und seine Schläfenlocken standen ab wie zwei Haarnadeln. Obwohl er Eltern hatte, sah er abgerissen und zerlumpt aus und streunte herum wie ein Waisenjunge. Er erzählte Dinge, die mir nicht geheuer waren: Hinter Warschau gebe es ödes Land und Felder, die niemandem gehörten und wo wilde Kühe weideten. Von Zeit zu Zeit tauchten dort auch wilde Männer auf.
      »Wenn die Kühe wild sind, kann man sie dann mitnehmen?« fragte ich ihn.
      »Niemand kennt den Weg dorthin.«
      »Wieso weißt du dann davon?«
      »Aus der Kabbala.«
      Ja, dieser Junge namens Boruch Dowid redete mir ein, er sei Kabbalist und kenne den Sohar. Er sagte, er könne Wein aus der Mauer fließen und Tauben vor unseren Augen erscheinen lassen, indem er Gottes heilige Namen aussprach. Ich bat ihn, mich in der Kabbala zu unterweisen, aber er sagte, ich sei noch zu jung.
      »Und du bist alt?«
      »Ich bin die Reinkarnation eines Heiligen.«
      Wir gingen durch die Straßen von Warschau, und er erzählte mir von den sieben Himmeln, den Engeln, Seraphim, den heiligen Tieren. Aber noch besser als in den Himmeln kannte Boruch Dowid sich in Warschau aus. Er nahm mich mit zu einem Gasthaus, wo Landjuden, die zum Einkauf ihrer Vorräte nach Warschau kamen, ihre Fuhrwerke unterstellten. Er zeigte mir Warschaus berühmtes Gefängnis, den Pawiak, und das Zeughaus in der Długastraße. Er kannte sogar den Weg in die Warschauer Vorstadt Praga. Wir gingen die Senatorskastraße und überquerten die Brücke nach Praga. Er fischte einen Korken aus seiner Hosentasche und warf ihn in die Weichsel.
      »Der schwimmt jetzt bis ins Meer«, sagte er.
      »Und von dort?«
      »Von dort in den Ozean.«
      »Und von dort?«
      »Von dort ans Ende der Welt.«
      »Und was ist da?«
      »Dort beginnt die Finsternis.«
      »Und was ist jenseits der Finsternis?«
      »Darüber darf man nicht nachdenken. Wer darüber nachdenkt, wird wahnsinnig.«
      Wir gingen zum Terespoler Bahnhof, um die Züge ankommen und abfahren zu sehen. Eine Lokomotive stieß Rauch aus und zischte; eine Glocke bimmelte. Ein riesiger Gendarm, die Brust ordengeschmückt, sorgte für Ordnung. Meine Schwester war irgendwohin fort zu einem fremden jungen Mann. Meine Eltern waren in Berlin. Mein Bruder Israel Joschua las ketzerische Bücher, und ich stand irgendwo auf einem entlegenen Bahnhof und sah Leute nach Hunderte von Meilen entfernten Orten abreisen. Boruch Dowid erzählte mir, dieser Zug fahre nach Sibirien, nach China, sogar dorthin, wo schwarze Menschen lebten.
      Ein junger Mann, vermutlich ein Rekrut, brach zu einer Reise auf. Er hatte hohe Stiefel an und trug einen Holzkoffer. Ein Mädchen in kurzem Kleid und geblümtem Schal war mit an den Zug gekommen. Sie küßten sich immer wieder. Er legte seine Hände um ihre Hüften. Ihre Münder preßten sich hungrig aufeinander. Sie wollten einander nicht loslassen.
      Boruch Dowid deutete mit dem Finger auf sie. »Sie treiben es miteinander.«
      »Was heißt das?«
      Und dann enthüllte Boruch Dowid mir das Geheimnis des Geschlechtsverkehrs. Alle taten es: Menschen, Tiere, sogar Fliegen.
    »Rabbis auch?«
    »Rabbis auch.«
    »Und rabbinische Richter?«
    »Rabbinische Richter auch.«
    »Du lügst! Das denkst du dir aus!«
      »Ich lüge nicht. Ich schwöre es dir bei meinen Schaufäden.«
      Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt, aber ich brauchte ihn, weil ich den Heimweg nicht wußte. Tiefe Traurigkeit überkam mich: Ich verfiel ins Träumen. Viele Rätsel wurden mir auf einmal klar. Erwachsene taten nur so, als wären sie wie Heilige. Sie mochten vielleicht von Gott sprechen, aber insgeheim, so daß die Kinder es nicht merkten, taten sie alle möglichen abscheulichen Dinge. Sogar meine eigenen Eltern. Sogar meine eigene Schwester.
      Boruch Dowid und ich waren wütend aufeinander, gingen aber trotzdem gemeinsam nach Hause, wenn auch mit einigen Schritten Abstand. Vielleicht haben die Ketzer recht, dachte ich. Vielleicht gibt es keinen Gott. Und vielleicht ist nichts wirklich. Vielleicht ist dies alles bloß ein Traum. Vielleicht sind alle Menschen Dämonen, auch Boruch Dowid.
      Es war dunkel, als ich zu Hause anlangte. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Die Tür ging auf, und die

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