Ein Cowboy für Bille und Zottel
Kopfkissen. Schweigend starrte sie an die Decke, ihre Augen füllten sich bereits wieder mit Tränen.
„Na, na...“ Onkel Paul klopfte ihr aufmunternd die Hand. „Weinen hilft zwar manchmal, weil es erleichtert. Aber ändern tut es nichts. Nun erzähl mal. Wer hat dich gekränkt — oder geärgert?“
„Mich? Niemand!“ Wieder starrte Bille stumm an die Decke. „Onkel Paul“, begann sie schließlich zögernd, „wie ist es möglich, daß ein Mensch sich so völlig verändert?“
„Daß sich seine Gefühle verändern, meinst du?“
„Nein, nicht seine Gefühle, er selbst! Er, der früher so zartfühlend und rücksichtsvoll und immer fair und kameradschaftlich gewesen ist — auf einmal ist er böse und hartherzig und gemein, richtig gemein!“
„Nun, wenn jemand sich in seinem Verhalten so verändert, so plötzlich, wie du sagst, kann man eigentlich nur annehmen, daß er sehr unglücklich ist. Daß ihn etwas schmerzt und traurig und verzweifelt macht, so daß er in seinem Schmerz wie ein Wilder um sich zu schlagen beginnt. Weißt du noch, als du ein kleines Mädchen warst, hatte ich einen Hund...“
„Mucki — diese lustige Promenadenmischung?“
„Genau. Mucki wurde eines Tages von einem größeren Hund angegriffen. Es gab einen wilden Kampf, die beiden verbissen sich ineinander und waren nicht auseinanderzubringen. Ich stürzte hin, um dem kläglich jaulenden Mucki zu helfen und versuchte ihn zu befreien — da hat er mich in die Hand gebissen! Etwas, was er sonst nie getan hätte, verstehst du? Er war der anhänglichste und zärtlichste Hund, den man sich vorstellen kann, er hätte mir niemals mit Absicht weh getan — aber in dem Augenblick, in seinem Schmerz und seiner Hilflosigkeit, hat er zugebissen. Aus lauter Verzweiflung.“
„Warum erzählst du mir das?“
„Weil derjenige, von dem du eben sprachst, sich vielleicht genauso fühlt, wie damals der kleine Hund Mucki.“
„Warum sollte Simon verzweifelt und hilflos sein?“
„Simon also.“
„Ja, Simon! Er hat Tom von Anfang an schlecht behandelt. Er hat ihn fühlen lassen, daß er ihn nicht mag, daß er ihn zum Teufel wünscht. Er war wütend, daß Tom das Neujahrsrennen gewonnen hat und hat ihn nur mies gemacht. Dabei war gerade Simon früher immer fair und hat auch andere gelten lassen! Und jetzt — als Bettina mit Sternchen den Unfall hatte und Tom Sternchen aus dem Moorsee gerettet und sich dabei eine Lungenentzündung geholt hat, da hat er ihn obendrein noch beschimpft und vom Hof gejagt! Klitschnaß, so wie Tom da vor ihm stand, völlig durchgefroren und überanstrengt! Er hat ihm nicht geholfen, nein, er hat ihn nur beschimpft! Das ist doch einfach unvorstellbar!“
„Nein, das ist es nicht.“
„Aber Onkel Paul...“
„Von den drei Henrich-Jungen warst du mit Simon am meisten befreundet, nicht wahr?“
„Ja. Das war einmal. .
„Seit Tom da ist, ist das anders?“
„Ja. Weil er sich Tom gegenüber so unmöglich benommen hat! Wir waren alle erst ein bißchen voreingenommen gegen Tom, aber als wir dann gemerkt haben, was für ein netter Kerl er ist, da hat sich das sofort geändert. Wir haben ihn in unseren Kreis aufgenommen, und er ist unser Freund.“
„Und für dich ist er noch ein bißchen mehr?“
„Er ist mein Adoptivbruder, ja — genauso wie Herr Tiedjen eine Art Adoptivvater für mich ist! Was ist schon dabei?“
„Nichts. Nur sieht Simon das vielleicht ein bißchen anders. Tom ist groß und kräftig — er selbst ist zierlich und klein. Tom ist ein strahlender Draufgänger, dem alle Herzen zufliegen, Simon ist ein stiller, verträumter, sensibler Junge.“
„Deshalb mochte ich ihn ja gerade am liebsten von allen.“
„Warum versuchst du dann nicht mal, seine Gefühle zu verstehen?“
„Weil es da nichts zu verstehen gibt! Simons Bruder Daniel ist auch groß und sportlich und strahlend, und Simon hat noch nie Anstoß daran genommen! Warum zum Teufel also bei Tom?“
„Ja, Kind...“ Onkel Paul hob hilflos die Schultern. „Wenn du das nicht weißt — wer außer dir sollte es wohl wissen?
Warum sprichst du nicht mit ihm darüber? Hast du es überhaupt schon mal versucht?“
„Nein.“
„Dann wird es höchste Zeit!“
„Ich denke ja nicht daran! Simon ist für mich gestorben!“
„Dann ist dir nicht zu helfen. Überleg es dir noch mal.“
Bille besuchte Tom täglich. Tom erholte sich schnell, und bald konnten sie ihre Hausaufgaben zusammen erledigen, Schach und Mühle spielen
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