Ein diebisches Vergnügen
»Das einzige Problem ist, dass man eine Wanderkarte braucht, um sich darin zurechtzufinden.«
Vial platzte beinahe vor Selbstzufriedenheit. »Natürlich besitze ich einen Karte. Ich zeige Ihnen in meinem Büro, wie man von A nach B gelangt, wie es bei Ihnen heißt.«
Sie setzten sich in Marsch, wobei Vial sich in der Rolle des Fremdenführers gefiel. »Hier gibt es überall Straßen, wie in einer Stadt. Im Moment befinden wir uns auf der Hauptstraße.« Er deutete auf ein kleines blau-weißes Emailschild mit der Aufschrift Boulevard du Palais, in Augenhöhe auf der ersten Säule angebracht, zu der sie gelangten. »Auf beiden Seiten zweigen Nebenstraßen ab, einige groß, andere klein«, fuhr Vial fort. Er blieb stehen und hob den Finger. »Aus dem Namen der Straße lässt sich ersehen, wen sie beherbergt.« Ein Wedeln des Fingers. »Ich spreche natürlich von Flaschen.« Er lotste sie in einen der Nebengänge. Ein weiteres blau-weißes Schild wies sie als Rue de Champagne aus.
Und da war er, Champagner in seiner ganzen ruhmreichen Vielfalt, der die Regale zu beiden Seiten eines schmalen Kiesweges füllte: Krug, Roederer, Bollinger, Perrier-Jouet, Clicquot, Dom Pérignon, Taittinger, Ruinart – in sämtlichen Größen: Magnumflaschen (1,5 Liter), Jeroboamflaschen (Doppelmagnum, 3 Liter) Rehoboamflaschen (4,5 Liter), Methusalemflaschen (6 Liter) und sogar Nebukadnezarflaschen (15 Liter). Vial betrachtete die Zurschaustellung mit dem Stolz eines Vaters, der in seine Sprösslinge vernarrt ist, bevor er sie zur nächsten Straße führte, in die Rue de Meursault, der Schlag auf Schlag die Rue de Montrachet, die Rue de Corton-Charlemagne, die Avenue de Chablis, die Allée de Pouilly-Fuissé und die Impasse d’Yquem folgten. Diese Seite der Hauptstraße, erklärte Vial, sei den Weißweinen vorbehalten, die gegenüberliegende Seite den Roten.
Der Weg vom einen Ende des Kellers zum anderen nahm fast eine Stunde in Anspruch, wobei sie hin und wieder stehen
blieben, um den gebührenden Respekt zu bekunden – beispielsweise den fantastischen roten Burgundern in der Rue du Côte d’Or, oder dem legendären Trio Latour, Lafite und Margaux in der Rue des Merveilles. Als sie endlich Vials Büro erreichten, fühlten sie sich leicht benommen, als hätten sie keine Besichtigungs-, sondern eine Degustationstour hinter sich.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, sagte Sam. »Ich habe keine Rue de Chianti entdeckt. Haben Sie keine italienischen Weine in Ihrem Sortiment?«
Vial starrte ihn an, als hätte er soeben seine Mutter beleidigt. Als er aufgehört hatte, den Kopf zu schütteln und mit der Zunge zu schnalzen, geruhte er zu antworten. »Nein, nein, nein, absolut nein! Jede Flasche, die Sie hier finden, ist französisch, darauf besteht Monsieur Reboul. Und nur das Beste vom Besten. Obwohl …« Vial schien zwiespältige Gefühle zu hegen, wie er fortfahren sollte. » Entre nous, und nicht für Ihr Buch bestimmt, dort drüben werden Sie ein paar Kisten aus Kalifornien entdecken. Monsieur Reboul besitzt ein Weingut in Napa Valley. Zum Zeitvertreib. Sein Hobby.« Und aus Vials Miene zu schließen kein Hobby, das er mit großer Begeisterung zur Kenntnis nahm.
Am Ende des Kellers parkte ein patriotisch angehauchtes Golfmobil in Blau, Weiß und Rot, den Farben der französischen Trikolore , neben einer riesigen zweiflügeligen Tür. Sie öffnete sich auf Knopfdruck und gab den Blick auf die lange Auffahrt frei, die zu der sehnsüchtig herüberblickenden Statue der Kaiserin Eugénie und dem Eingangstor des Anwesens führte.
»Sehen Sie?«, sagte Vial. »Der Keller befindet sich unter der großenRasenfläche vor dem Haus.« Er deutete auf den Kopfsteinpflaster-Bereich unmittelbar vor der Tür. »Dies ist
der Lieferanteneingang. Die Lkws werden hier aus- und umgeladen, in meinen chariot de golf, mit dem ich die Flaschen zu ihrer jeweiligen Adresse fahre.«
Sophie betrachtete das Golfmobil mit gerunzelter Stirn. »Und wie gelangt der Wein ins Haus, wenn der Hausherr bereit ist, ihn zu trinken, Monsieur Vial? Doch gewiss nicht über die Treppe. Oder fahren Sie mit Ihrem Cart …«
»Aha!« Vial tippte an seine Nase. »Typisch Frau, immer praktisch denkend. Ich zeige es Ihnen, bevor wir gehen. Doch nun begleiten Sie mich bitte in mein Büro, damit Sie sich ein Bild von der ausgefallenen Ausstattung machen können.«
Es war offensichtlich, dass Vial mit einer wichtigen Nebenrolle im geplanten Buch rechnete, denn er gab sich die
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