Ein diebisches Vergnügen
Eigenleben angenommen hatten und unbeherrscht auf den Boden trommelten. »Wann glauben Sie -«
Grosso schnitt ihm mit wedelndem Finger das Wort ab. »Die Auswertung lässt sich nicht im Handumdrehen durchführen. Sie sind doch an einem eindeutigen Nachweis für eine Übereinstimmung interessiert, oder?«
Philippe nickte.
»Eindeutig«, wiederholte Grosso. »Das bedeutet, hieb- und stichfest. Es darf nicht den geringsten Zweifel geben, sonst wird das Ergebnis vor Gericht als Beweismittel abgelehnt. Ich muss mit absoluter Sicherheit wissen, nicht nur vermuten, dass die Fingerabdrücke identisch sind. Verstehen Sie? Dieser Prozess erfordert Zeit.« Grosso signalisierte das Ende der Besprechung, indem er die Tür öffnete. »Ich rufe Sie an, sobald ich gesicherte Erkenntnisse habe, so oder so.«
Philippe schlängelte sich mit seinem Motorroller durch das Verkehrsgewühl im Vieux Port; seine Gedanken überschlugen sich, als er hügelaufwärts zum Sofitel-Hotel fuhr. Das war der letzte Baustein des Puzzles. Falls die Fingerabdrücke übereinstimmten, wäre die Sensation perfekt und die Story zu schreiben ein Kinderspiel. Natürlich war es ratsam, noch ein wenig daran herumzufeilen und die Fakten hier und da zu schattieren. Sophie und Sam würden vermutlich keinen Wert darauf legen, namentlich erwähnt zu werden, und es galt die Rolle zu bedenken, die Inspektor Andreis bei der Aufklärung des Falles gespielt hatte. Doch im journalistischen
Stil der alten Schule ließen sich kleine Auslassungen dieser Art stets rechtfertigen, indem man das erste Gebot des Reporters heraufbeschwor: Du sollst die Namen deiner Informationsquellen nicht preisgeben. (Es besaß sogar einen höheren Stellenwert als eine weitere altehrwürdige Lieblingsmaxime der schreibenden Zunft: Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, informiert zu werden.) Philippe verspürte einen Anflug von Optimismus. Bester Laune fuhr er vor dem Hotel vor, wedelte mit einem Fünfeuroschein und bat den verdutzten Portier, den Motorroller zu parken.
Sophie und Sam beschlossen, sich für den Rest des Nachmittags in Touristen zu verwandeln, und nahmen ein Taxi, das sie zur Basilika Notre-Dame de la Garde hinaufbrachte, Marseilles weithin sichtbarem Wahrzeichen. Von den Einheimischen La Bonne Mère genannt und von einer zehn Meter hohen, mit Blattgold überzogenen Statue der Madonna mit Kind gekrönt, beherbergt sie eine erstaunliche Anzahl von Votivgaben. Diese wurden im Lauf der Jahrhunderte von Seeleuten und Fischern dargebracht, die mit knapper Not den Tücken des Meeres entronnen waren. Es waren die unterschiedlichsten Dinge: Marmorplaketten, Mosaiken, Collagen, maßstabgetreue Modelle von Schiffen, Gemälde, Rettungsgürtel, Flaggen, Figurinen – die Innenwände der Kirche waren damit gepflastert. Das verbindende Element all dieser Gaben war Dankbarkeit, oft mit schlichten Worten zum Ausdruck gebracht. »Merci, Bonne Mère« lautete eine Botschaft, die immer wieder auftauchte.
Sophie fand diese Angebinde von Menschen, die dem Tod von der Schippe gesprungen waren, faszinierend und oft zutiefst anrührend: eine Erinnerung an den Tod und eine Feier des Lebens. Bei Sam, dessen Erfahrungen mit dem Leben auf
dem Meer kurz und gallebitter waren, riefen sie auf das Lebhafteste die Abneigung gegen Schiffe aller Art ins Gedächtnis zurück. Diese schwimmenden Särge waren nicht nur eng, feucht und unbequem, sondern besaßen auch die Unart, nach Lust und Laune zu schlingern und zu sinken. Nach der Betrachtung eines besonders sinnträchtigen Dreimasters bei hohem Seegang, der zu kentern drohte, eilte er zu Sophie. »Ist es nicht wunderbar, festen Boden unter den Füßen zu haben?«, murmelte er. »Ich warte draußen auf Sie. Ich fürchte, seekrank zu werden, wenn ich noch eine Sekunde länger bleibe.«
Er hatte eine Stunde im Halbdunkel der Kirche verbracht, und es dauerte einige Minuten, bis sich seine Augen an das blendende Licht der Abendsonne gewöhnt hatten, und einige weitere Minuten, bis es ihm gelang, sie zu fokussieren. Obwohl sein Aufenthalt in Marseille durch zahllose Postkarten-Panoramen bereichert worden war – die sich ihm von verschiedenen Aussichtspunkten im Hotel oder Rebouls Wohnzimmer im Palais du Pharo eröffnet hatten -, war der Anblick, der sich ihm vom offenen Platz vor La Bonne Mère bot, wahrhaftig atemberaubend: Im Norden sah man den Vieux Port und das alte Panier-Viertel; im Westen die imposanten Villen von Le Roucas Blanc aus dem neunzehnten
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