Ein diebisches Vergnügen
Nachtluft möge bewirken, was Whisky und Fernsehen nicht geschafft hatten. Er betrachtete den Mond, der über dem Alten Hafen stand – beinahe Vollmond -, und warf einen Blick auf seine Uhr. Fast drei. Er fragte sich, wo er morgen um die gleiche Zeit sein würde. Er sann darüber nach, ob sein Vorhaben gelingen konnte, ob er an alles gedacht hatte. Und ob die anderen mitmachen würden.
Im Morgengrauen befand er sich immer noch auf dem Balkon; durchgefroren und steif, aber keine Spur müde. Er hatte vielmehr das Gefühl, als hätte ihm die schlaflose Nacht einen Adrenalinschub verschafft, und konnte es kaum erwarten, dass der Tag endlich anbrach. Er bestellte beim Zimmerservice Frühstück und stellte sich unter die kochend heiße
Dusche, bis sich die Haut unter der kalifornischen Sonnenbräune sichtlich zu röten begann.
Er wollte sich mit Kaffee und der Herald Tribune die Zeit vertreiben. Aber als er wieder auf die Uhr schaute, war es immer noch zu früh, um Sophie und Philippe anzurufen. Also beschloss er, einen Spaziergang zu machen, und als er das Hotel verließ, wandte er sich instinktiv nach links, in Richtung Palais du Pharo.
Die beiden Flügel des großen schmiedeeisernen Tores waren noch geschlossen. Er blieb stehen und betrachtete durch die schwarzen Gitterstäbe die weitläufige Rasenfläche, die wie ein grüner Teppich zum Schloss hinaufführte. Vial würde nicht vor zehn im Keller erscheinen, und die Angehörigen von Rebouls Hauspersonal würden die Abwesenheit ihres Dienstherrn nutzen, um eine halbe Stunde länger im Bett zu bleiben, solange er in Korsika weilte. Das Anwesen war erstaunlich ruhig gelegen, trotz der Nähe zum Stadtzentrum. Hinter sich vernahm er das leise Murmeln des Verkehrs, als Marseille erwachte und sich beeilte, seinen frühmorgendlichen Betätigungen nachzugehen. Von den Docks jenseits des Alten Hafens klang eine Schiffssirene herüber. Das schwermütige Signal veranlasste ihn, den Weg einzuschlagen, der den Hügel hinab zum Quai des Belges führte, um sich den nächtlichen Fang anzuschauen, der für den Fischmarkt ausgeladen wurde.
Gewöhnlich landeten Fischerboote zwischen 8.00 Uhr und 8.30 Uhr an, doch die Marktfrauen waren vor ihnen da, mit leeren, frisch geschrubbten Ständen, die auf ihre Ware warteten. Ein traditionelles Merkmal des Marktes – beinahe selbst eine Touristenattraktion – war der ebenso schlagfertige wie frivole Wortschatz dieser Händlerinnen, mit sichtlichem Vergnügen und einer Stimme zum Besten gegeben, deren
Lautstärke mächtig genug war, sich gegen einen Mistral der Windstärke 8 durchzusetzen. Schade, dass seine Französischkenntnisse nicht ausreichten, um die Feinheiten dieser derben Marktsprache auch nur in Ansätzen zu erfassen. Sich später noch einmal mit Philippe als Dolmetscher auf den Markt zu begeben wäre sicher ein großer Spaß, dachte Sam.
Die ersten Boote legten am Quai an, und die frechen Scherze der Marktfrauen wurden immer lauter, untermalt vom Klatschen der Fische, die auf den Ständen ausgelegt wurden, die Augen noch hell und die Schuppen glänzend. Die ersten Kundinnen trafen allein und zu zweit ein, inspizierten die feilgebotene Ware mit tiefem Misstrauen, während sie von einem Stand zum nächsten wanderten – wobei sie prüfend in die Augen eines Drachenkopfes blickten, an den Kiemen eines Knurrhahns rochen und die Anziehungskraft einer im Backofen gegarten Dorade gegen die Vorzüge einer Bouillabaisse abwogen.
Sams erste und einzige Begegnung mit diesem legendären Gericht – eine Erfahrung, die ihm noch heute einen Schauer über den Rücken jagte – ging auf einen Abend in New Orleans zurück, wo er sich überreden ließ, ein Gericht zu probieren, das sich Bouillabaisse Créole nannte. Es schmeckte so grauenvoll, dass er nicht umhinkonnte, den Kellner nach den Ingredienzien zu fragen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Mehl, Austern, Margarine und Hühnerbrühe. Eine seltsame Mischung für eine reichhaltige Fischsuppe, offenbar eine Sparversion. Er schwor sich, irgendwann eine echte Bouillabaisse zu essen. Ein weiterer Grund, nach Marseille zurückzukehren, in eine Stadt, die ihm mit jedem Tag besser gefiel.
Ohne es zu merken, war er einem der Stände nahe genug gekommen, um den Verkaufsinstinkt der Inhaberin zu wecken,
einer von Wind und Wetter gegerbten Marktfrau, die eine ausgeblichene Baseballkappe und strapazierfähige Gummihandschuhe trug. »Eh, monsieur!«, schrie sie ihm zu. »Comme il est beau, ce
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