Ein diebisches Vergnügen
Gedanken, während er in der Dunkelheit saß, und er begann vorauszudenken, über die Nachtarbeit hinaus. Wie würde sie auf die Eröffnung reagieren, dass sie den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben, sprich, strafbare Methoden angewendet hatten, um eine Straftat aufzuklären? Als Privatperson würde sie vermutlich beide Augen zudrücken, denn sie war keine Pedantin. Aber als Geschäftsfrau würde es ihr schwerfallen, seine Eigenmächtigkeit zu akzeptieren. Sie würde ihm die Hölle heißmachen. Aber nicht lange. In der Versicherungsbranche pflegte der Zweck die Mittel zu heiligen, wie bei den meisten Unternehmen, in denen es um viel Geld ging. Ein satter Gewinn unter dem Strich entschuldigt fast alle Sünden. Die Welt ist schlecht, sinnierte er, während er sich in Vials Stuhl zurücklehnte, vermutlich fühle ich mich deswegen so wohl in ihr.
Er musste eingenickt sein. Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, war es kurz vor zehn; Zeit, sich an die Arbeit zu begeben. Er stand auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und
fand den Lichtschalter neben der Haupttür. Der Keller wirkte nachts größer und geheimnisvoller als tagsüber, als die Sonne durch die geöffneten Türen hereingeströmt war. Nun waren die mächtigen Gewölbedecken von undurchdringlichen Schatten verhüllt und die Lichtlachen, die von den Hängelampen gebildet wurden, schienen sich unendlich weit zu erstrecken.
Sam lud einen Stapel leerer Kartons in das Golfmobil und fuhr los; die Reifen holperten über den Steinplattenweg, der die Rotweine von den Weißweinen trennte. Seine erste Station war die Rue des Merveilles, eine feudale Adresse, wo Château Lafite und Château Latour den aristokratischen Schulterschluss probten. Er nahm Roths Weinliste aus der Tasche und strich sie auf dem Beifahrersitz glatt.
1961er Latour, 98 Flaschen . Er eilte an den Regalreihen mit den Weinbehältnissen entlang, überflog die mit Kreide beschrifteten Schiefertafeln, die den Jahrgang des Weines kennzeichneten, bis er zum Jahr 1961 gelangte. Hier lagerten mindestens dreihundert Flaschen, schätzte er, als er begann, die leeren Kartons zu füllen, und es gab keine Möglichkeit zu erkennen, ob die achtundneunzig Flaschen, die er mitnahm, tatsächlich Roth gehörten. Doch der Advokat würde sich schon nicht beschweren. Nach und nach entwickelte er einen stetigen Rhythmus: zwei Flaschen aus dem Behältnis nehmen, den Jahrgang auf jedem Etikett überprüfen, sicherheitshalber, die Flaschen in die einzelnen Fächer des Kartons packen, Karton schließen, zum Weinbehältnis zurückkehren. Sobald ein Karton gefüllt war, wurde er auf die Ladefläche hinter den Sitzen des Golfmobils gehievt.
Er hielt inne und blickte auf seine Uhr. Es hatte mehr als eine halbe Stunde gedauert, knapp hundert Flaschen Latour zu verladen. Bei diesem Tempo würde er noch etwa drei
Stunden brauchen, plus die Zeit für das Hin- und Herfahren mit dem Golfmobil. Folglich müsste er zwischen zwei und drei Uhr morgens fertig sein. Er fragte sich, wie es Philippe gelingen mochte, seine Ungeduld zu zügeln.
1953er Lafite, 76 Flaschen. Während er sich bückte, aufrichtete und zwischen Weinbehältnissen und Golfmobil hinund herpendelte, fielen ihm wieder einige Bemerkungen von Florian Vial ein.
Das Weingut Lafite bei Bourdaux hatte eine lange Tradition – Baron James Rothschild, damals der reichste Bankier Europas, hatte es 1868 für 177 600 Pfund erworben, weil er wusste, dass die Nachfrage nach Rotweinen steigen würde. Bei der Schilderung des Lafite klangen Vials Lobeshymnen teilweise gedämpft, weil er im Überschwang der Begeisterung ständig seine Fingerspitzen geküsst hatte. Gleichwohl waren einige der Verbalpreziosen, die er den poetisierenden Beschreibungen anderer Weinexperten entlehnt hatte, laut und deutlich vernehmbar. Sam erinnerte sich vor allem an eine bestimmte druckreife Formulierung, die ganz unspektakulär begonnen hatte mit »kompakter und zugleich subtiler Körper, weich und dennoch mit ausgeprägter Struktur«, um sich zu einem Crescendo aus »Finesse, Bukett und Tiefe des Geschmacks« zu steigern, kombiniert mit »Eleganz, übergreifendem Charakter und Rasse, die sich hervorragend im Mund entfaltet«, um in einem lustvollen Höhepunkt zu enden: »So fantastisch und grandios, das er ein Symposium aller anderen Weine bietet.« All diese vollmundigen Redewendungen hatte Vial, noch dazu in englischer Sprache, aus dem Gedächtnis zitiert. Am anderen Ende der Skala höherer Weinpoesie
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