Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein diskreter Held

Ein diskreter Held

Titel: Ein diskreter Held Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
Nähe zu seinen Kameraden nicht. Es war, als wäre er weiter im Dienst, wenn er dieselben Leute sah und über dieselben Dinge sprach. Weshalb er nach sechs Monaten in das Haus der Calanchas zog, wo es fünf Zimmer für Pensionsgäste gab. Es war sehr bescheiden, Litumas Schlafzimmer war winzig, aber er zahlte nur wenig, und dort fühlte er sich freier. Als er nun hereinkam, saß das Ehepaar Calancha vor dem Fernseher. Er war Lehrer gewesen und seine Frau städtische Angestellte. Sie waren schon lange im Ruhestand. Die Pension schloss nur das Frühstück ein, aber wenn der Gast es wollte, ließen die Calanchas ihm das Mittag- oder Abendessen von einer Garküche bringen, deren Speisen sehr gehaltvoll waren. Der Sergeant fragte sie, ob sie sich zufällig an eine kleine Kneipe in der Nähe des alten Stadions erinnerten, geführt von einer etwas männlich wirkenden Frau, die La Chunga hieß oder so genannt wurde. Sie sahen ihn verblüfft an und schüttelten den Kopf.
    In der Nacht lag er lange wach, er fühlte sich körperlich unwohl. Wieso war es ihm bloß eingefallen, Hauptmann Silva von Josefino zu erzählen. Jetzt war er sich sicher, dass der Zuhälter keine Spinnen gemalt hatte, sondern etwas anderes. Die Vergangenheit aufzurühren tat ihm nicht gut. Es bedrückte ihn, an seine Jugend zu denken, sein jetziges Alter – fast fünfzig schon –, welch einsames Leben er führte, das ganze Unglück, das über ihn gekommen war, diese Dummheit mit Seminario und dem russischen Roulette, die Jahre im Gefängnis, die Geschichte von Bonifacia, die ihm jedes Mal, wenn er sich daran erinnerte, einen bitteren Geschmack in den Mund legte.
    Irgendwann schlief er ein, aber schlecht, mit Albträumen, die, als er aufwachte, nur schreckliche, kaputte Bilder in seinem Kopf hinterließen. Er wusch sich, frühstückte, und vor sieben war er wieder auf der Straße, hin zu dem Ort, wo sein Gedächtnis ihm sagte, dass die Kneipe der Chunga sein musste. Es war nicht leicht, sich zu orientieren. In seiner Erinnerung war esder Stadtrand gewesen, auf dem Sand standen dürftige Hütten aus Lehm und Zuckerrohrstängeln. Jetzt gab es Straßen, Beton, edle Häuser, Masten mit elektrischem Licht, Bürgersteige, Autos, Schulen, Tankstellen, Geschäfte. Wie hatte sich alles verändert! Das ehemalige Armenviertel war heute Teil der Stadt, und nichts ähnelte der Erinnerung. Seine Versuche, von den Bewohnern etwas zu erfahren – er trat nur an ältere Personen heran –, waren vergeblich. Niemand erinnerte sich an die kleine Bar, noch an die Chunga, viele stammten nicht einmal aus Piura, sondern waren von den Anden herabgekommen. Er hatte das unschöne Gefühl, dass sein Gedächtnis ihn belog; nichts hatte es je gegeben, es waren Hirngespinste, waren es immer gewesen, ein reines Produkt seiner Fantasie. Der Gedanke erschreckte ihn.
    Noch am Vormittag gab er die Suche auf und machte sich auf den Weg ins Zentrum. Ihm war heiß, und bevor er zum Revier ging, trank er an der Ecke eine Limonade. Die Straßen waren bereits ein einziger Lärm: Autos, Busse, Kinder in Schuluniform; Verkäufer von Lotterielosen und Krimskrams, die ihre Ware ausriefen, dahinhastende und verschwitzte Menschen, die die Bürgersteige verstopften. Und da fiel ihm auf einmal der Name der Straße und die Hausnummer ein, wo seine Cousins gewohnt hatten, die Leóns: Morropón 17. Im tiefsten Herzen der Mangachería. Er schloss die Augen und sah die verblichene Fassade des nur einstöckigen Hauses, die vergitterten Fenster, die Blumentöpfe mit Wachsblumen, die Chichakneipe, über der, an einem Rohrstock befestigt, ein weißes Fähnchen anzeigte, dass es frische Chicha gab.
    Er nahm ein Motorradtaxi bis zur Avenida Sánchez Cerro, und während er spürte, wie ihm die Schweißtropfen übers Gesicht liefen und der Rücken klatschnass wurde, drang er zu Fuß in jenes Labyrinth aus Straßen, Gassen, Kehren, Brachen ein, das die Mangachería einmal gewesen war, dieses Viertel, das sich, wie es hieß, so nannte, weil es zur Zeit der Kolonie von einstigen Sklaven besiedelt wurde, die man aus Madagaskar importiert hatte, den malgaches . Auch hier hatte sich alles verändert, die Form, die Leute, die Struktur und die Farbe. Die ehemals unbefestigten Straßen waren asphaltiert, die Häuser aus Ziegelstein und Beton, es gab einige größere Gebäude, Straßenbeleuchtung, dafür keine einzige Chichakneipe mehr und auch keinen Esel auf den Straßen, nur streunende Hunde. Aus dem Chaos war Ordnung

Weitere Kostenlose Bücher