Ein Fall für Kay Scarpetta
die ich auf den Whiskey zurückgeführt hatte. War dies seine dunkle Seite? War es die Wahrheit, daß er nur dann Lust empfand, wenn er Macht spürte? Wenn er nahm?
Er war bereits hier gewesen, in diesem Haus, am Tatort, als ich ankam. Kein Wunder, daß er so schnell reagiert hatte. Sein Interesse war mehr als nur beruflicher Art. Er tat nicht einfach nur seinen Job. Er muß Abby's Adresse wiedererkannt haben. Er wußte wahrscheinlich, wessen Haus das ist, bevor irgend jemand anders es wußte. Er wollte es sehen, wollte sicher sein. Vielleicht hoffte er sogar, daß Abby das Opfer war. Dann müßte er sich keine Sorgen mehr machen, daß dieser Moment kommen könnte, wo sie die Geschichte erzählen würde. Ich saß ganz still da und befahl meinem Gesicht, zu Stein zu werden. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Es quälte mich, ich konnte es einfach nicht glauben. Es war verheerend. Ein Telefon klingelte in einem anderen Zimmer. Es klingelte und klingelte, und niemand hob ab.
Schritte kamen die Treppe herauf, man hörte das dumpfe Geräusch von Metall auf Holz und das Rauschen von Funksprechgeräten.
Sanitäter trugen eine Bahre in den zweiten Stock.
Abby fummelte an einer Zigarette herum und warf sie dann zusammen mit dem brennenden Streichholz in den Aschenbecher.
"Wenn es stimmt, daß Sie mich verfolgen ließen" - sie senkte ihre Stimme, man konnte ihre Verachtung förmlich spüren in dem Raum - "und wenn Ihr Grund der war, festzustellen, ob ich mich mit ihm traf, ob ich mit ihm schlief, um die Informationen zu bekommen, dann müßten Sie wissen, daß das, was ich sage, die Wahrheit ist. Nach dem, was in jener Nacht geschehen ist, bin ich nicht mehr in der Nähe von diesem Mistkerl gewesen."
Marino sagte nichts.
Sein Schweigen war eine Antwort.
Abby hatte Bill seither nicht mehr gesehen.
Später, als die Sanitäter die Bahre heruntertrugen, lehnte Abby am Türrahmen und klammerte sich mit vor Erregung weißen Fingerknöcheln fest. Sie sah den Umriß der Leiche ihrer Schwester und starrte den Männern nach, ihr Gesicht eine blasse Maske elender Trauer.
Ich drückte in stummem Mitgefühl ihren Arm und ging hinaus, mit dem Wissen um ihren unbegreiflichen Verlust. Der Verwesungsgeruch hing im Treppenhaus, und als ich in das blendende Sonnenlicht auf der Straße trat, war ich einen Moment lang wie blind.
12
Henna Yarboroughs Haut war naß vom wiederholten Abspülen und glänzte wie weißer Marmor in dem Neonlicht. Ich war mit ihr allein in der Leichenhalle und nähte die letzten paar Zentimeter des Y-Schnittes zu, der wie eine große Furche von ihrem Schambein bis zum Sternum ging und sich über der Brust teilte. Wingo hatte sich ihres Kopfes angenommen, bevor er nach Hause gegangen war. Die Schädeldecke befand sich wieder an der richtigen Stelle, der Schnitt auf der Rückseite ihrer Kopfhaut war sauber verschlossen und vollkommen durch ihr Haar verdeckt, aber die Würgespuren an ihrem Hals sahen wie Brandzeichen aus. Ihr Gesicht war aufgedunsen und violett, und weder meine Bemühungen noch die des Bestattungsinstitutes würden daran etwas ändern.
In der Vorhalle ertönte unsanft der Summer. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun Uhr abends.
Ich schnitt das Garn mit einem Skalpell durch, bedeckte die Leiche mit einem Tuch und streifte die Handschuhe ab. Ich konnte hören, wie Fred, der Wachbeamte, mit jemandem unten im Korridor sprach, als ich die Leiche auf einen Wagen zog und sie in den Kühlraum rollte.
Als ich wieder herauskam und die große Stahltür verschloß, lehnte Marino an dem Tisch und rauchte eine Zigarette.
Er sah mir schweigend zu, wie ich die Proben und Blutröhrchen aufsammelte und anfing, sie zu beschriften.
"Irgend etwas gefunden, was ich wissen müßte?"
"Die Todesursache ist Ersticken durch Strangulieren mit den Fesseln um ihren Hals", antwortete ich mechanisch.
"Irgendwelche Spuren?" Er schnippte Asche auf den Boden.
"Ein paar Fasern -"
"Schön", unterbrach er, "ich hab' da ein paar Dinge."
"Schön", sagte ich im selben Ton, "ich will verdammt noch mal hier raus."
"Klar, Doc. Genau das dachte ich mir auch. Hatte so die Idee, einen kleinen Ausflug zu machen."
Ich hielt in meiner Arbeit inne und starrte ihn an. Sein Haar klebte feucht an seinem Kopf, seine Krawatte war gelockert, sein kurzärmeliges weißes Hemd war hinten zerknittert, als ob er lange Zeit in seinem Auto gesessen war. Unter seiner linken Achsel war sein braunes Schulterhalfter mit dem langläufigen
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