Ein Fall für Kay Scarpetta
Revolver festgeschnallt. In dem grellen Neonlicht sah er fast bedrohlich aus, seine Augen umschattet, seine Kiefermuskeln arbeiteten.
"Denke, Sie sollten mitkommen", fügte er sachlich hinzu. "Ich warte einfach, bis Sie aus Ihrer Schürze heraus sind und zu Hause angerufen haben."
Zu Hause anrufen? Woher wußte er, daß jemand zu Hause war, den ich anrufen mußte? Ich hatte meine Nichte in seiner Gegenwart nie erwähnt. Ich hatte Bertha nie erwähnt. Meiner Meinung nach ging es Marino nichts an, ob ich überhaupt ein Zuhause hatte. Ich wollte ihm gerade sagen, daß ich nicht beabsichtigte, irgendwo mit ihm hinzufahren, als mich der kalte Ausdruck in seinen Augen zögern ließ.
"Okay", murmelte ich. "Okay."
Er lehnte immer noch rauchend an dem Tisch, als ich durch den Saal und in den Umkleideraum ging. Ich wusch mein Gesicht im Waschbecken, zog meine Schürze aus und Rock und Bluse wieder an. Ich war so zerstreut, daß ich meinen Schrank aufschloß und nach meinem Kittel griff, noch bevor mir bewußt wurde, was ich tat. Ich brauchte meinen Kittel nicht. Mein Notizbuch, die Brieftasche und die Kostümjacke waren oben in meinem Büro.
Ich holte all diese Dinge, dann folgte ich Marino zu seinem Auto. Ich öffnete die Beifahrertür, und das Innenlicht schaltete sich nicht ein. Beim Einsteigen griff ich nach dem Gurt und wischte Krümel und eine zusammengeknüllte Papierserviette vom Sitz. Er fuhr rückwärts aus dem Parkplatz heraus, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Der Sucher lief blinkend von Kanal zu Kanal, und Funker übermittelten Informationen, die Marino nicht zu interessieren schienen und die ich nicht verstand.
"Drei-fünfundvierzig, zehn-fünf, eins-neunundsechzig auf Kanal drei."
"Eins-neunundsechzig, geb' weiter."
"Biste frei?"
"Zehn-zehn. Zehn-siebzehn im Einsatz."
"Ruf mich, wenn du zehn-vierundzwanzig."
"Zehn-vier."
"Vier-einundfünfzig."
"Vier-einundfünfzig Ende."
"Zehn-achtundzwanzig auf Adam Ida Lincoln eins-sieben-null..."
Marino fuhr schweigend durch die Stadt, wo die Ladenfenster mit eisernen Gittern versehen waren, die nach Ladenschluß heruntergelassen wurden. Rote und grüne Neonschilder warben in den Fenstern für Pfandhäuser, Schusterläden und Fundgruben. Das Sheraton und das Mario waren hell erleuchtet wie Schiffe, aber es waren nur wenige Autos oder Fußgänger unterwegs, nur ein paar schemenhafte Gestalten, die an den Straßenecken herumstanden. Ich begriff erst einige Minuten später, wo wir hinfuhren. Auf dem Winchester Place wurden wir langsamer und fuhren an der Nummer 498 vorbei, Abby Turnbulls Adresse. Das Klinkerhaus stand da wie ein schwarzer Riese, die Flagge wie ein Schatten, der schlaff über dem Eingang wehte. Vor der Tür stand kein Auto. Abby war nicht zu Hause. Ich fragte mich, wo sie jetzt wohl wohnte.
Marino bog langsam von der Straße ab in die kleine Seitenstraße zwischen dem Klinkerhaus und dem nächsten Gebäude. Das Auto holperte über einige Unebenheiten, die Scheinwerfer sprangen auf und ab und beleuchteten die dunklen Backsteinmauern der Häuser, glitten über Abfalleimer, die an Pfähle gekettet waren, und Flaschenscherben und anderen Müll. Nachdem wir etwa zehn Meter weit auf diesem Weg gefahren waren, hielt Marino den Wagen an und schaltete den Motor und das Licht aus. Direkt links von uns lag der Hinterhof von Abbys Haus, eine kleine Rasenfläche, umgeben von einem Drahtzaun mit einem Schild, das vor einem Hund warnte, den es nicht gab.
Marino ließ das Licht aus. Alle Fenster des Hauses waren geschlossen, das Glas schimmerte dunkel. Der Sitz knarrte, als er den Suchscheinwerfer über den leeren Hof gleiten ließ.
"Na los", sagte er. "Ich warte drauf, daß Sie mir sagen, daß Sie das gleiche denken wie ich."
Ich sagte, was offensichtlich war. "Das Schild. Das Schild an dem Zaun. Wenn der Mörder gedacht hätte, daß sie einen Hund hat, dann hätte er es sich vielleicht noch einmal überlegt. Keines der Opfer hatte einen Hund gehabt. Hätten sie einen gehabt, dann wären sie vermutlich noch am Leben."
"Bingo."
"Und", fuhr ich fort, "ich könnte mir vorstellen, daß Sie daraus schließen, der Mörder müsse gewußt haben, daß das Schild nichts zu bedeuten hat, daß Abby - oder Henna - keinen Hund hatten. Und woher konnte er das wissen?"
"Tja. Woher konnte er das wissen", wiederholte Marino langsam, "wenn es nicht einen Grund dafür gab, daß er es wußte."
Ich sagte nichts.
Er drückte den Zigarettenanzünder in die Buchse. "Zum Beispiel,
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