Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
fragte ich meine Mutter, ob wir uns nicht auf ein monatliches Taschengeld einigen könnten. Ständig musste ich sie um Geld anbetteln, und in den meisten Fällen erhielt ich eine Abfuhr, was mich immer wieder kränkte.
»Christine«, erhob Jürgen seine Stimme ermahnend. »Du bist doch alt genug, um selbst Geld zu verdienen, oder?« Er hielt mir eine seiner berühmten Jürgen-Predigten über den Umgang mit Geld, wie wichtig es doch sei, dass man sich dieses selbst erarbeiten würde, dann könne man schließlich für tolle Sachen sparen, sei doch dann auch unabhängig und so weiter ... Völlig außer Acht ließ er, dass seine Söhne ein großzügiges Taschengeld von Margot erhielten, die wiederum ihr Geld von Jürgen bekam. Seine Moralpredigt strotzte, wie so oft, vor lauter Widersprüchlichkeiten. Bei Jürgen war es genauso ergiebig, dagegen zu argumentieren, wie die berühmten Eulen nach Athen zu tragen, und ich empfand seine Vorträge überflüssig wie ein Heizdeckchen auf den Seychellen. Mit seinen großen Worten hatte er jedenfalls binnen weniger Minuten erreicht, was er wollte. Als er die Sätze »Aber ich will mich da um Gottes willen nicht einmischen. Letztlich hat die MAMI das Sagen« ausgesprochen hatte, wusste ich, noch bevor MAMI den Mund überhaupt öffnete, dass Christine Al-Farziz kein Taschengeld erhalten würde. Nicht heute und auch in Zukunft nicht.
Einige Tage später, ich war mal wieder im Lädchen am Krankenhaus, fragte ich den Ladenbesitzer, ob ich nicht stundenweise aushelfen könnte. Er sagte zu, und für vier Mark fünfzig die Stunde hatte ich mit dreizehn meinen ersten Job. Zunächst beschränkte sich die Arbeit auf das Putzen der Kühltheke, das Einräumen der Milchprodukte und das gelegentliche Bedienen der Kundschaft. Als mein Chef merkte, dass ich gewissenhaft und zuverlässig meine Aufgaben erledigte, bestellte er mich jeden Samstagmorgen für fünf Uhr in der Frühe. Die frische Ware wurde dann angeliefert, und ich hatte dafür zu sorgen, dass alle Kisten mit Gemüse und alle Stiegen mit Obst ordnungsgemäß und in einwandfreiem Zustand angeliefert und in den großen Kühlräumen gelagert wurden. Wenn diese Arbeit getan war, bepackte ich den kleinen LKW mit den Bestellungen für Gaststätten, Hotels und Privatkunden. Mein Chef brauchte mir nicht zu sagen, dass ich die Bestellungen von vorne nach hinten zu packen hatte, denn das schaffte mein Verstand von alleine. Bei den Privatkunden handelte es sich vorwiegend um ältere Leute, die den Weg zum Lädchen alleine nicht mehr schafften. Die meisten waren alte, alkoholabhängige Frauen. Ich bekam stinkende und düstere Absteigen zu Gesicht, in denen desolate hygienische Verhältnisse herrschten. Viele von diesen »vergessenen Alten« hatten ausschließlich meinen Chef einmal pro Woche als Ansprechpartner. Ich schleppte unzählige Kästen Bier und ebenso viele Flaschen Korn die Treppen rauf und war erschüttert, wie der Alkohol die Menschen dahinvegetieren ließ. Verglichen mit meiner Oma waren diese Leute schon zu Lebzeiten tot. In Verbindung mit den Horrorszenarien, die sich bei uns zu Hause abspielten, wenn mein Vater zu viel getrunken hatte, sorgten diese Eindrücke bei mir für eine regelrechte Aversion gegen den Geruch von Alkohol. Niemals, so schwor ich mir, würde ich mich von diesem Zeug abhängig machen.
Die Arbeit im Lädchen war für mich dünnes Mädchen sehr kräftezehrend. Da ich dort aber im Schnitt mindestens zehn Stunden pro Woche arbeitete, standen mir im Monat einhundertachtzig Mark zur Verfügung. Verglichen mit den Mädchen aus unserer Klasse gehörte ich damit zu den Spitzenverdienern. Ich sparte und sparte und kaufte mir von meinem ersten Geld eine Stereoanlage. Jürgen bot sich großzügig an, seine geschäftlichen Kontakte spielen zu lassen. Auf diese Weise, so erklärte er mir, könnte ich eine Anlage zum Einkaufspreis erwerben, die im Geschäft sicherlich das Doppelte kosten würde. Als Jürgen dann eine Woche später zwei Riesenkartons anschleppte, war eine von den beiden identischen Stereo-Anlagen für seinen Sohn Ulf bestimmt. Ulf bekam die Anlage geschenkt, und Jürgen kassierte von mir fünfhundert Mark. Wieder einmal fraß ich meine Wut über diese Ungerechtigkeit in mich hinein und heulte am Abend Bobbys Fell in meinem Bett nass. Als mir nach zwei Monaten beim Einschalten der Musikanlage urplötzlich die Endstufe durchknallte, musste ich von meinen Ersparnissen weitere zweihundert Mark berappen, denn die
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