Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss
komm ich nach Nacogdoches. War im Oktober, ein schöner, kühler Tag. Angeblich hat es eine Art Prozess gegeben, aber der Sheriff, John Spradley, fand, dass der Nigger nicht fair behandelt worden war. Hat alles Mögliche versucht, damit der Mann ein neues Verfahren kriegt. Hat ihn in Güterwaggons versteckt und so, ihn von einem Ort zum nächsten geschleppt. Aber am Ende haben sie ihn gefunden und ihm gesagt, er kann sich aussuchen, ob er sofort oder später gehängt werden will. Er wollte es gleich hinter sich bringen. Ich hab mir das von ganz hinten angeguckt. Aus ein paar Balken haben sie eine Art Dreibein zusammengezimmert, Buchannon auf eine Kiste draufgestellt und sie dann unter ihm weggetreten, sodass der Strick ihn erwürgt hat. Ganz langsam. Ich hab mir geschworen, nie wieder freiwillig zuzuschauen, wie jemand gehängt wird. Das war wie ein kleines Volksfest, Stan. So viele Männer und Frauen, größtenteils Weiße, aber auch ein paar Farbige, die genau wie ich ganz hinten standen, und wir alle waren da, um den armen Nigger da baumeln zu sehn, wie er gerade so mit den Zehen überm Boden hing und sich die Seele aus dem Leib geröchelt hat. Sie hatten den Strick nicht gut geknotet, wahrscheinlich mit Absicht. So gab’s ein größeres Spektakel. Hat dem Kerl nicht schnell das Genick gebrochen, sondern ging alles ganz furchtbar langsam, wie er da so zuckte und ihm die verdammte Zunge ganze fünfzehn Zentimeter aus der Fresse hing. Jemand ist rumgegangen und hat Erdnüsse verkauft, und die Leute hatten Bollerwagen dabei, in denen saßen die Frauen und Kinder und haben gepicknickt.
Als dann alles vorbei war, kam mir erst mal mein Mittagessen wieder hoch. Danach bin ich meiner Wege gegangen und hab ’n großen Bogen um alles und jeden mit weißer Haut gemacht. Hab Angst gehabt, dass sie noch nicht zufrieden wären und sich noch ’n Neger zum Aufknüpfen suchen würden. – Mit der ganzen Sache will ich auf was Bestimmtes raus, Stan. Weißt du, auf was?«
»Man soll keine voreiligen Schlüsse ziehen?«
»Genau. Noch vor Kurzem warst du davon überzeugt, der alte Stilwind hätte es getan, nachdem ich dir eine kleine Geschichte erzählt hatte. Jetzt denkst du dir, dass es vielleicht James war. Und ich hab überlegt, dass sie beide was damit zu tun haben könnten ... Und außerdem ist es – abgesehn von Notwehr – die Aufgabe der Polizei, für Gerechtigkeit zu sorgen, nicht unsere.«
»Aber das tut sie ja nicht immer.«
»Sohn, wir sind hier nicht bei Hopalong Cassidy. Manchmal verlieren die Guten.«
Ich saß noch eine Weile hinten bei Buster und schaute den Film, aber schon nach der ersten Vorstellung ging ich in mein Zimmer. Ich kletterte ins Bett, dachte über all das nach, was ich erfahren hatte, und ließ mir Busters Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. Bei der Vorstellung von einem Mann, der an einem Strick baumelte und erstickte, wurde mir ganz schlecht.
Mit hinterm Kopf verschränkten Armen lag ich eine Weile einfach nur da; auf meinen Füßen hatte Nub sich breitgemacht und zuckte ab und zu mit dem Hinterlauf, als würde er in seiner Phantasie einem Hasen nachjagen.
Ich fühlte mich ziemlich elend wegen dieser Sache mit Callie, und es tröstete mich kaum, dass ich mit meinem Eingreifen wohl das Schlimmste verhindert hatte. Ich hätte sie niemals allein lassen sollen, nicht mit einem Typen wie James Stilwind. Ich hatte geahnt, was für ein Mensch er war, und hatte doch nichts Besseres zu tun gehabt, als aus dem Kinofenster zu gaffen.
Schrecklich, wie es in Wirklichkeit zuging auf der Welt, in Dewmont. Wahrscheinlich spielten sich solche Dinge in jeder Kleinstadt ab, und die meisten Leute merkten nichts davon. Ich hätte lieber zu den meisten Leuten gehört. Es war, als ob ich einen Deckel angehoben hätte, und nun kamen alle üblen Geheimnisse der Welt hervorgekrochen.
Noch vor gar nicht so langer Zeit war meine größte Sorge, meine größte Enttäuschung gewesen, dass es den Weihnachtsmann nicht gab.
Ich seufzte und starrte an die Decke.
Langsam musste es mal wieder bergauf gehen.
»Muss es einfach«, sagte ich laut.
Aber das Schicksal war noch nicht fertig mit mir.
21
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, ließ ich Nub nach draußen. Er rannte zum Vorführhäuschen und fing an zu bellen. Ich nahm an, dass vielleicht ein Waschbär oder ein Opossum hineingekrochen war. Das war bereits mehrmals passiert, wenn Buster die Tür offen gelassen hatte. Hatte ich jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher