Ein Freund aus alten Tagen
etwas überlegt«, sagte Natalie nach einer Weile.
Wijkman hob den Kopf. Plötzlich wirkte er müde und wie der Mann mittleren Alters, der er war.
»Könnte es nicht sein, dass die Albaner ihn nach den Artikeln in der Presse nicht mehr ziehen lassen konnten und wollten? Und er deshalb da unten festsaß?«
Jetzt sah Wijkman ihr in die Augen. Sie waren rot unterlaufen, und Natalie nahm ein leichtes, seiner Gemütsbewegung geschuldetes Zwinkern wahr. Offenkundig würde sie keine Antwort auf ihre Frage bekommen, aber sein Gesichtsausdruck sagte ihr ohnehin alles, was sie wissen musste. Natalie ließ ihm etwas Zeit, sich wieder in den Griff zu bekommen, war aber noch nicht ganz fertig.
»Warum ausgerechnet Albanien?« Ihre Frage kam unvermittelt und schien ihn zunächst sprachlos zu machen.
»Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung.«
»Aber er muss doch eine Verbindung zu dem Land gehabt haben, oder nicht?«
Wijkman musterte seine Kaffeetasse. »Mir würde vielleicht eher etwas einfallen, wenn Sie mir erzählen würden, was Sie schon gehört haben.«
Seine Stimme klang sanft tadelnd, aber Natalie antwortete ein weiteres Mal mit Schweigen. Wijkman war jetzt wieder konzentriert und wachsam.
»Hat jemand den Kongress in Bukarest erwähnt?«
»Erzählen Sie mir Ihre Version«, sagte sie und zog das Notizbuch zu sich heran.
»Natalie, lassen Sie uns bitte aus einer Mücke keinen Elefanten machen.«
Es war in ihrem letzten Studienjahr in Uppsala gewesen, ein Jugendkongress in Bukarest. Die Veranstaltung nannte sich Friedenskongress, war jedoch vor allem ein Forum für die kommunistischen Länder und ihre Sympathisanten aus dem Westen. Die Sowjetunion und China hatten im Grunde endgültig miteinander gebrochen. Die Stimmung war deshalb angespannt, fast aggressiv gewesen.
»Waren Sie alle drei dort?«, fragte Natalie.
Er warf ihr einen forschenden Blick zu, dann nickte er.
Die beiden sozialistischen Supermächte hatten während des gesamten Kongresses einen Stellungskrieg ausgefochten. Es wurden Artikel und Proklamationen mit Spitzen gegen die andere Seite verfasst, Gerüchte verbreiteten sich wie Ringe auf dem Wasser.
»Die ganze Situation war deprimierend«, fasste Wijkman zusammen.
Er wirkte nachdenklich. Natalie fragte sich, ob er versuchte, sich zu erinnern, oder ob er darüber nachdachte, wie viel er ihr erzählen sollte.
»Mitten in diesem Chaos haben sie sich angefreundet«, sagte er schließlich. »Seinen Nachnamen weiß ich nicht mehr, aber ich meine mich zu erinnern, dass wir ihn Behxet nannten. Er war etwas älter als wir, ein Albaner, der in Leningrad studiert hatte, nach dem Bruch mit der Sowjetunion jedoch in sein Land zurückgekehrt war. Nun war er ein Teil der albanischen Delegation, die natürlich zum chinesischen Lager gehörte. Aber genau wie Erik war Behxet in erster Linie Visionär. Die beiden hatten sich gesucht und gefunden.« Er schwieg einen Moment. »Das alles ist so unglaublich lange her.«
»Sie meinen, dieser Behxet ist die Verbindung? Der Grund dafür, dass Erik nach Albanien gefahren ist?«
Carl Wijkman zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber es ist das Einzige, was mir einfällt, die einzige Verbindung, die Erik jemals zu Albanien hatte.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen.«
»Hatte Behxet etwas mit Erik Lindmans Veränderung zu tun?«
Wijkman blickte in Richtung Ausgang. »Das denke ich nicht. Sie sollten nicht alles glauben, was Sie hören.«
Was hören? Von wem? »Was meinen Sie, was hat er gesagt?«
Er war jetzt ungeduldig, vielleicht hatte er sie auch durchschaut und erkannt, dass sie keine Ahnung von dem Kongress in Bukarest gehabt hatte, bis er selbst davon anfing.
»Ich fand, dass es vor allem viel melodramatisches Gelaber war, und das finde ich heute noch.«
Sie verabschiedeten sich vor dem Museum, und Carl Wijkman hielt ihre Hand eine Spur zu lange in seiner, wandte sich dann um und ging mit schnellen Schritten davon. Ein eleganter Herr auf dem Zenit seiner Laufbahn. Der ehemalige Staatssekretär mit einem Spitzenposten in der Wirtschaft. Deine Wege sind verschlungen gewesen, Carl Wijkman, aber wenn dein Vater dich jetzt sähe, wäre er wahrscheinlich stolz auf dich, dachte Natalie.
Tilas stieg aus dem Wagen und schaute zu der umzäunten Baustelle hinüber. Es handelte sich um eines von Stockholms alten, am Wasser gelegenen Industriegebieten. Das Gaswerk war vor langer Zeit stillgelegt worden, und die Grundstücke sollten saniert werden, um
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