Ein Freund der Erde
Füße auf die Beinsprossen gestützt. Wie sie das tut, die Art, in der sie den Stuhl packt und darauf Platz nimmt – und mehr noch der Klang ihrer Stimme, ihr Geruch –, das alles rührt eine tiefliegende Inversionsschicht in dem lange nicht mehr bewegten See meiner Erinnerung auf. Aber darum geht es doch wohl auch, oder? Ums Erinnern? In memoriam, Sierra Tierwater, 1976–2001. Ruhe in Frieden. Keine Chance.
»Ich sagte: du erinnerst dich an April, oder, Ty?«
Aha, jetzt ist es eine Frage. Ich kann Zeit schinden. Kann den alten Mann spielen, frisch vom Nasentropf und mit weicher Birne, aber was bringt mir das – sechzig Sekunden Aufschub? Andrea ist zäh. Sie will irgendwas – ich weiß noch nicht genau, was eigentlich, aber mir ist klar, sie wird’s kriegen. Außerdem bin ich nicht so alt, nicht so wie meine Großeltern damals – oder Andreas gebrechlicher Vater und das umherschlurfende, verhutzelte alte Wrack von ihrer Mutter, die während ihrer letzten zwei Lebensjahre Andrea für die Katze der Putzfrau hielt –, weil meine Generation (mit pharmazeutischer und chirurgischer Unterstützung) niemals ihre Jugend aufgegeben hat, bis daß der Tod uns scheide. April Wind weiß das. Und Andrea weiß es sowieso. Natürlich könnte ich ins Schlafzimmer rüber, auch mit dem schlimmen Rücken und einem halb abgefressenen Arm, um die gute alte Nitro Express zu holen, die Zwölf-Millimeter-Elefantenbüchse, die ich vor tausend Jahren von Philip Ratchiss gestohlen habe, und die beiden in Hyänenfutter verwandeln, aber trotz gegenteiliger Berichte war ich nie gewalttätig. Jedenfalls nicht besonders gewalttätig. Oder übertrieben gewalttätig. »Yeah«, knurre ich, »sicher.«
Die Frau, die mit den Bäumen spricht, mustert mich mit der Art Blick, wie ihn eine Buschkatze aufsetzt, wenn sie im hohen Gras eine Bewegung bemerkt. Sie dürfte etwa so alt wie Sierra sein, vermute ich – das heißt, so alt, wie Sierra wäre, würde sie noch unter jenen weilen, die als die Lebenden durchgehen. Neunundvierzig, fünfzig vielleicht. Aber ich kann Sierra nicht einmal annähernd in ihr erkennen, das möchte ich auch gar nicht, denn das wäre ja wohl der absolute Gipfel an Sinnlosigkeit und unbewältigtem Kummer... Meine Tochter? Heute? Sie wäre wunderschön, jemand, nach dem man sich umdreht, ganz was anderes als diese eingeschrumpelte kleine Puppenfrau mit Pferdegebiß und vergammelten Doc Martens an den Füßen und in einem Kleid, in das nicht mal eine Sechstkläßlerin passen würde.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagt April Wind, dabei muß ihre Stimme einen Zahn zulegen, um bei dem Heulen draußen überhaupt vernehmbar zu sein (Unwetter Nummer drei der letzten Serie ist etwa vor einer Stunde losgebrochen). »Und danke, daß du mir dieses Interview zugesagt hast. Dafür bin ich echt dankbar.«
Aufgepaßt, es geht los. Die heilige Sierra . »Ich hab dir nichts zugesagt.«
Das Gesicht, das April Wind jetzt zieht – man könnte meinen, ich hätte sie in den Magen geboxt. Ich setze meine beste Version eines grimmigen Starrens für sie auf, zusammengepreßte Kiefer, hartgekochter Blick, aber in Wirklichkeit sehe ich über ihre Schulter auf die Schnecken, die ihre Schleimspuren die Fensterscheibe rauf und runter ziehen, gut darauf vorbereitet, die Erde zu übernehmen, die wir ihnen zugerichtet haben. Klar kenne ich sie noch. Die Tantra-Tussi. Endlose Nächte in einem zugigen Zelt, diese erbarmungslose Trällerstimme, ihre Totems, die sie in einem Beutel um den Hals trug – sie konnte sich nicht mal zum Essen hinsetzen ohne ein bescheuertes Gebet an die Erdgöttin. Ich kann total deine Aura sehen, ey, die ist blau mit purpurroten Rändern, und ich spüre genau, daß ich mich irgendwie voll zu dir hingezogen fühle, weil nämlich unsere Planeten im selben Haus stehen .
»Aber ich dachte, irgendwie...«
»Hast du immer noch deine Totems um? Was war deins noch schnell – die Kröte, oder? Warst du nicht eine Kröte?« Pause, ein Atemzug, das Geräusch der Eimer, die das ewige Tröpfeln auffangen. »Aber was tust du, wenn dein Totemtier nicht nur tot, sondern gleich total ausgestorben ist?«
Andrea springt in die Bresche: »April? Eine Tasse Tee für dich?«
Die Kinderfinger tasten nach etwas unter dem Kragen des Kleides, nach dem Musselinbeutelchen dort – flinke, nervöse Finger. Dann streicht sie den feuchten Baumwollrock auf ihren Knien glatt, wirft einen zaghaften Blick auf Andrea, dann auf mich. Mama hat mich
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