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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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irgendwo hinter uns donnert Chuy die Rampe der Parkfläche hinauf, als wollte er mit dem Geländewagen ins Weltall abheben. »Was ist Ihr Problem?« will der Portier wissen, ein Monster von Mensch, das mir vage bekannt aussieht (Swensons Kneipe? Gestern abend?), auf Nase, Lippen, Schädel und Unterarmen hat er einen Flickenteppich aus alten und neuen Hautkrebsgeschwüren. »Gar nichts, Sie Hirn«, sagt Andrea, und da ist wieder dieser scharfe Ton, »der Mann hier verblutet nur gerade, sonst nix.«
    Es folgt der Nervenkrieg mit den Formularen – rund zwanzig, fünfundzwanzig Seiten insgesamt. Andrea preßt sich eng an mich, ihr großer Daumen drückt immer noch auf die Wunde, die Frau hinter dem Schreibtisch gähnt, die Funksprechanlage kracht, irgendwer wandert davon, um eine Klemme aufzutreiben und einen der Ärzte aus seiner Trance zu wecken. Alle Fenster sind zugenagelt, weil man es leid war, sie alle drei oder vier Tage neu zu verglasen, die Lichtqualität entspricht der eines Luxusmausoleums. Deprimierend. Extrem deprimierend. Um die Stimmung zu verbessern, witzele ich darüber, daß Petunia mich nur am linken Arm erwischt hat, sonst wäre ich echt angeschissen, was das Ankreuzen dieser Formularkästchen angeht. Niemand lacht. Und sogar hier, in der Tiefe der bleichegeputzten und fast blitzsauberen Korridore, mit sechs Etagen aus Stahl und Beton und Körpersäften über uns, kann ich den Regen hören. Sssssss , zischt er, Hintergrundmusik für jedes menschliche Drama. Sssssss.
    Was braucht es diesmal? Zweiunddreißig Stiche und einen halben Kilometer Verbandgaze, keine große Sache und nichts für ungut, sage ich dem Arzt, aber mir ist es schon schlimmer ergangen. Wesentlich schlimmer. Ich werfe Andrea einen bedeutsamen Blick zu, aber sie ist in Gedanken gerade anderswo. Bei jedem Stich, dem kleinen Brennen und dem größeren Schmerz, der nachfolgt, betrachte ich sie, zuerst im Profil und dann von hinten, als sie durch den Raum ans Fenster tritt, das gar kein Fenster ist, sondern eine nackte, verworfene Pseudoholzplatte mit vorgebohrten Löchern zur leichteren Montage (noch so eine florierende Branche). Ich kann mich immer noch nicht an sie gewöhnen. Wie paßt das Gesicht einer alten Frau zu diesen Schultern und diesen Beinen? Darüber denke ich nach, während der Arzt – ein Steppke von knapp Zwanzig, der sich vermutlich noch nicht mal rasieren muß – mit der Nadel in meinen Arm sticht, und mehr noch: wenn man den Schmerz nach Graden messen will, was heißt es wohl, daß sie endlich zu mir zurückgekommen ist?
    April Wind ist tief eingesunken in die nach Hunden stinkende Couch, die ich vor zehn Jahren zusammen mit diesem Haus geerbt habe. Ich halte keine Hunde. Nie welche gehabt. Wer braucht einen Hund, wenn er Hyänen, Patagonische Füchse und Brillenbären hat? Die Sache ist die, daß einer von Macs Roadies hier gestorben ist – genau hier, auf dem Fußboden unterm Fenster, wo man immer noch die Flecken sehen kann, wenn man genau hinschaut –, nach einem unerquicklichen, absolut vermeidbaren Mißgeschick, an dem eine Seilschlinge, eine Plastiktüte, zwei Frauen und drei große Ketchupflaschen beteiligt waren; seine Habe, wie man wohl sagt, ist an mich übergegangen. Oder heißt es auf mich? Jedenfalls sitzt sie nun dort, und ich vergesse meinen kaputten Arm, den Schmerz in meinem Steißbein, der wie ein Feuer rast (hab es präzise gegen die offene Tür eines Trockners gerammt, als Petunia nach mir hechtete), oder die Tatsache, daß ich schon die zweite Nacht hintereinander ein höchst befriedigendes und enorm nachwirkendes sexuelles Erlebnis hatte – ich bin ein Fremder in meinem eigenen Haus, und mein Haus wird langsam voll.
    Gestern früh habe ich gepfiffen, heute bin ich nicht dazu in Stimmung. Das Frühstück (Haferschleim, als Ballaststoffe etwas Kleie und Bierhefe dazugekippt, die Krabben wurden bereits der Liebe geopfert) ist kaum verdaut, bis jetzt hab ich weder die Zeitung gelesen noch mich auf dem Klo gequält, und da weht dieser Windhauch aus der Vergangenheit herein. Ein Wind mit Gesicht. Ich muß an das Poster von Peter Max denken, der Kampf um das Wetter mit Helios in der einen Ecke und Äolus in der anderen. Damals gewann natürlich regelmäßig die Sonne.
    »Ty, du erinnerst dich an April«, sagt Andrea, und sie macht keine Frage daraus. Ich sehe ihr zu, wie sie einen der schimmelfleckigen Küchenstühle durch den Raum schleift und sich mädchenhaft auf die Kante setzt, die nackten

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