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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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konnte nicht antworten. Er nahm sie in die Arme – was konnte er sonst schon tun? Vom anaphylaktischen Schock, von Epinephrin oder Histaminen hatte er noch nie gehört, seine Kenntnisse in Erster Hilfe und Wiederbelebungsmaßnahmen waren gleich Null, und er war siebzehn Kilometer von der nächsten Straße entfernt. Und außerdem war es ja nur ein Bienenstich . Ja, sicher, aber während er sie festhielt, sprang ihr das Herz geradezu aus dem Brustkorb heraus, und dann machte sie sich naß, der warme Urin rann ihr als Rinnsal das schmutzige Bein hinunter, es roch wie Essig in einer heißen Pfanne, und nun lag sie am Boden, auf der Seite, und erbrach die schwärzliche Paste der Pfannkuchen. Wasser, er brachte ihr Wasser und strich das Haar aus ihrem Mund, aber da war nichts mehr in ihren Augen, und sie war so kalt wie der Boden, auf dem sie lag.
    Er wußte nicht, wie lange er bei ihr gesessen und versucht hatte, ihr abwechselnd den Puls zu fühlen und ihr trotz seiner schmerzenden Lungen Luft in den Hals zu pressen, sie sollte wieder atmen, sich rühren, aufstehen und den Krampf lockern, zum Teufel! Dann gingen ihm Gebete durch den Kopf, die Gesichter von Toten. Ora pro nobis , und obwohl – oder gerade weil – er von Panik erfüllt war, konnte er sich nicht überwinden, sie zu bewegen, auch als der feuchte Nebel zu Nieseln und das Nieseln zu Regen wurde. Endlich aber – es mußte bereits spät am Nachmittag sein – hob er sie aus dem Schlamm und legte sie sich über die Schulter, keine Last der Welt war schwerer, kein Wackerstein oder Bleigewicht oder alle Gebirge der Gegend, die am Horizont ordentlich gestaffelt nach Kanada davonmarschierten. Den Pfad entlang, bis zur Abzweigung, auf der Straße zum Wagen und dann ins Krankenhaus nach Whitefish. Er brachte sie zurück, den ganzen langen Weg, brachte sie fort von den hohen Bäumen und der Nässe und dem Stich jenes immerwährenden Tages, aber das bedeutete weder ihm noch anderen irgend etwas, weil er sie nicht lebend zurückbrachte.

Teil 2
Unser wichtigstes Produkt heißt Fortschritt

Santa Ynez, November 2025
    Ich kann nicht schlafen. Dabei bin ich verdammt noch mal müde genug, mein Knie schmerzt rasend, der Rücken hat jetzt endgültig seine Invalidenrente angetreten, jeder Muskel im Körper ist bis zum Zerreißen angespannt, und beide Schultern scheinen an Schnüren zu hängen wie bei einer Marionette. Ich bin kaputt, erledigt, ausgelaugt und abgekämpft. Es war ein Scheißtag. Ich liege im Bett in Macs Haus, in einem Zimmer, das größer als ein Busbahnhof ist, und starre im Dunkeln an die Decke. Andrea liegt neben mir, eingerollt zu einem Fragezeichen schnarcht sie so leise, daß ich es kaum höre, und Macs rosa Satinbettwäsche fließt wie Badewasser über und unter meinen dankbaren Altmännerfüßen. Wollte man Behaglichkeit definieren: so fühlt sie sich an.
    Draußen ist alles anders. Draußen herrscht der Wind, der horizontale Regen, das Gezerre und das Geheule, draußen ist das Wrack all dessen, was ich in den letzten zehn Jahren mein Zuhause genannt habe, die Ruinen der vielen Käfige und Gehege, die wir zum Wohlergehen und im Interesse der Tiere mühsam entworfen und gebaut haben. Alles weg. Einfach so. Wo früher das Gästehaus stand, fließt jetzt ein Strom, ein zuckender Wassermuskel über tiefen braunen Bodenrippen, Schluß mit Rancho Seco, Schluß mit der Lupine-Hill-Siedlung, nur noch Sirenen und Suchscheinwerfer und Menschen, die sich an das eine oder andere Stück Treibgut klammern.
    Aber nicht das hält mich wach. Ich bin die Liste der Tiere schon zweimal durchgegangen, in der Hinsicht bin ich beruhigt, und Andrea konnte das meiste meiner persönlichen Habseligkeiten retten (vergilbende Boxershorts, den Lebensmittelkompressor, den Toaster, meine zerlesenen Exemplare von Aufstieg und Fall des Dritten Reichs und Dharma, Zen und hohe Berge , ein paar Flaschen Sake und diverse Vorräte). Dinge bedeuten mir ohnehin nichts. Ich könnte alles woanders wiederaufbauen, packen und weiterziehen, in irgendeinem Graben oder einem Tipi leben – meinetwegen auch auf einer zwei mal zweieinhalb Meter großen Plattform hoch oben in einem Redwood. Nein, das Problem ist eher im Kopf – mein Hirn will einfach nicht abschalten. Eine Zeitlang habe ich versucht, die verschlungene Kette meiner Gedanken bis zum ersten Bild zurückzuverfolgen – das funktioniert meistens, weil ich früher oder später den Zweck der Übung vergesse, und dann ist es sechs Uhr früh

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