Ein gefaehrlicher Liebhaber
nicht, wie viele Tage es noch bis Manaus waren. Nahrung war kein Problem; die Lebensmittelpakete befanden sich nach wie vor im Boot. Ihre einzige Sorge war Benzin, denn sie hatte kein Geld. Nun, sie würde eben Lebensmittel gegen Benzin eintauschen müssen. Ein bisschen Hungern würde sie nicht umbringen. Und wenn sie kein Benzin bekommen konnte, würde sie halt rudern. Das gäbe Ben zwar eine gute Chance, sie einzuholen, aber diesem Problem würde sie sich stellen, wenn es so weit war.
Perlgraue Dämmerung begann den Himmel im Osten zu erhellen, und es dauerte nur wenige Minuten, bis es Tag wurde. Der Regenwald füllte sich mit Farben, satten, leuchtenden Farben, viel intensiver als in den nördlicheren Breiten, und verdrängte die Finsternis und Monotonie der Nacht. Vielleicht würde sie ja in wenigen Wochen wieder ins Landesinnere aufbrechen, diesmal mit einer von der Regierung finanzierten Expedition. Sie würden ein Satellitenortungsgerät mitnehmen und es in dem abgeschlossenen Hain aufpflanzen. Dann könnten sie mithilfe der Umlaufbahnsatelliten ihre genauen Koordinaten bestimmen und fortan per Flugzeug anreisen. Man könnte einen Helikopterlandeplatz frei machen oder gar eine Flugzeuglandepiste anlegen; groß genug war der Kessel jedenfalls dafür. Danach wäre die steinerne Stadt zwar nie wieder dieselbe. Aber die Leute, die ihre Geheimnisse erforschen würden, täten dies mit der nötigen Andacht und Ehrfurcht.
Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, aber sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte.
Ein kleines Flugzeug dröhnte über sie hinweg und riss sie aus ihren Gedanken. Gerade eben hatte sie an Hubschrauber und Flugzeuge gedacht, aber natürlich nur im abstrakten Sinne. Ihr letzter Kontakt mit der Zivilisation war so viele Wochen her, dass sie geradezu erschrak.
Sie prüfte kurz den Benzinstand: nur noch ein paar Zentimeter im letzten Tank. Wenn sie es nicht bis zur nächsten Siedlung schaffte, würde sie mit den Bewohnern der vereinzelten Hütten schachern müssen, aber so oder so, sie würde Manaus erreichen. Aufgeben war ein Fremdwort für sie.
Sie besaß keine Uhr mehr, konnte also nicht genau sagen, wie spät es war, doch verstand sie sich inzwischen recht gut auf das Lesen des Sonnenstands. Es musste etwa gegen Mitte des Vormittags sein, als eine weitere kleine Siedlung in Sicht kam, wieder nur eine Ansammlung ärmlicher Hütten auf Stelzen, die das Ufer säumten. Sie hatte jetzt nur noch gut zwei Zentimeter Benzin übrig, also blieb ihr gar nichts anderes übrig, als hier anzuhalten.
Das Dorf wirkte nicht viel anders als das Dorf gestern: Die Kinder kamen angerannt, die Eltern hielten sich misstrauisch im Hintergrund. Diesmal jedoch eilte ein Mann herbei, um sie zu begrüßen, ein rundlicher Herr in Tropenshorts, Sandalen und einem breiten Strohhut. Auf seiner nackten Brust wucherte ein wahres Dickicht drahtiger grauer Kraushaare.
Wie vorauszusehen, waren seine ersten Worte: »Aber Senhorita, Sie sind doch nicht etwa allein?« Seine buschigen grauen Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen.
»Ein Unglück, ja, leider«, antwortete sie. »Ich muss unbedingt nach Manaus.«
»Aber das ist gar nicht gut. Es ist sehr gefährlich. Und Sie brauchen einen Hut.«
»Ich brauche Benzin...«
»Ja, ja, sicher«, sagte er. »Aber Sie müssen zu uns ins Haus kommen. Meine Frau wird Ihnen einen Hut und etwas Kaltes zu trinken geben.«
Sie zögerte nur einen Moment. »Danke, das wäre sehr nett. Aber ich habe leider kein Geld, Senhor...«
»Moraes«, erwiderte er. »Bolivar Moraes. Meine Frau heißt Angelina, und sie ist wahrlich ein Engel, Sie werden sehen. Machen Sie sich keine Gedanken um Geld, Senhorita. Sie sind allein; Sie brauchen Hilfe. Wir kriegen das schon hin. Und jetzt kommen Sie, kommen Sie.«
Er befahl einem Kind, das Schlauchboot festzubinden, und streckte Jillian höflich die Hand entgegen, um ihr auf den Steg zu helfen. Jillian ergriff den Rucksack und nahm seine Hilfe an.
Eine äußerst attraktive Frau, mindestens zwanzig Jahre jünger als Senhor Moraes, kam auf die Veranda heraus. »Bolivar?«, rief sie.
»Wir haben einen Gast, mein Engel«, jubelte er. »Eine hübsche junge Frau, die unsere Hilfe braucht.«
Senhor Moraes braucht wohl eine Brille, dachte Jillian, gegen ihren Willen belustigt. Hübsch! Sie musste fix und fertig aussehen, und die Haare hatte sie sich seit zwei Tagen nicht mehr gekämmt.
Angelina Moraes trat vor und rettete Jillian entschlossen vor ihrem
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