Ein Geschenk von Tiffany
altes Plakat von 1921, auf dem noch die ursprünglichen Vorschriften für die Benutzung der Bibliothek standen.
»Insgesamt? Ungefähr fünf Millionen.«
»Wow. Müssen die nicht alle abgestaubt werden?«, scherzte Cassie.
»Na, mein Job ist das jedenfalls nicht.«
Sie gingen weiter. Hier befanden sich buchstäblich kilometerweise Regale, und jede Reihe sah genauso aus wie die vorherige. Cassie war’s ein Rätsel, wie Robin sich hier zurechtfand.
»Und woher kennen Sie Henry?«, erkundigte sie sich, während sie im Vorbeigehen leicht mit den Fingern über die Buchrücken strich. Luke war ein paar Schritte hinter ihnen.
»Ach, wir laufen uns regelmäßig über den Weg. Er findet, und wir sammeln, und so begegnet man sich natürlich«, erklärte er. »Viele seiner Privatkunden gehören zu unseren Gönnern. Wir sehen uns öfter bei Christie’s.«
Er blieb vor einem Gang stehen. »Okay, hier sollte es sein … ja … das ist es.«
Sie gingen zu einem kleinen Schreibtisch, der auf halbem Weg zwischen zwei Regalreihen stand. Darauf lag, im warmen Schein einer Leselampe, ein in braunes Leder gebundenes Buch. Daneben lagen mehrere Paar weiße Stoffhandschuhe.
»Die müssen Sie anziehen«, sagte Robin und reichte ihnen je ein Paar.
»Wieso?«, fragte Cassie, während sie ihre anzog.
»Weil das eine Erstausgabe ist. Sie ist hundertsechzig Jahre alt. Charles Dickens hat selbst bei öffentlichen Lesungen daraus vorgelesen.«
»Wahnsinn!«, hauchte Cassie und starrte auf die uralten Seiten.
»Ja. Wir gewähren Ihnen hier ein äußerst seltenes Privileg. Nur sehr wenige Leute haben Zugang zu diesem Buch.«
»Und Henry ist einer davon?«, stieß Cassie ungläubig hervor.
»Na ja, sagen wir mal, er ist ein alter Freund. Und er hat uns beim Ankauf einiger sehr wertvoller unveröffentlichter Expeditionsnotizen von den Galapagosinseln von Charles Darwin geholfen. Es freut mich wirklich, ihm diesen kleinen Gefallen tun zu können.«
»Mann«, flüsterte Cassie.
»Hier, setzen Sie sich«, sagte Robin und deutete auf den Stuhl.
Sie setzte sich vorsichtig. »Ach, ich liebe diesen Geruch«, schwärmte sie und sog den muffigen Geruch des Buchs ein. »Ich geh manchmal einfach nur in Antiquariate, um an den Seiten zu riechen.«
»Ja, ich weiß, was Sie meinen.«
»Neue Bücher riechen einfach anders, finden Sie nicht? Muss an der Papierqualität oder an dem Druckverfahren liegen.«
»An beidem. Aber es liegt auch an den sogenannten VOCs, den volatile organic compounds oder flüchtigen organischen Verbindungen. Was Sie da riechen, ist der Verfallsprozess von Papier.«
»O nein!« Cassie sah das alte Buch erschrocken an.
Er lächelte. »Keine Sorge, dieses Buch wird unter Idealbedingungen verwahrt. Sie können gern ein bisschen reinlesen, wenn Sie wollen.«
»Darf ich wirklich?«
»Klar. Sagen Sie mir nur, wann ich umblättern soll.«
Sie schaute wieder auf die Seiten, musste aber die erste Zeile gar nicht lesen, um zu wissen, was da stand.
»Marley war tot. So viel vorab. Daran besteht nicht der geringste Zweifel« , intonierte sie mit geschlossenen Augen. Im Geiste hörte sie die Stimme ihres Vaters und wie er die Worte betonte. Er hatte ihr, wenn sie in den Weihnachtsferien aus dem Internat nach Hongkong heimkam, immer ein Kapitel pro Abend vorgelesen, bis zum letzten dann am Weihnachtsabend. Für sie war’s kein richtiges Weihnachten ohne diese Geschichte. »Die beste erste Zeile, mit der man ein Buch anfangen kann, finde ich.« Sie schaute Luke an. »Hast du’s je gelesen?«
Er schüttelte den Kopf. Ein wenig enttäuscht senkte sie den Kopf und begann zu lesen, das ganze erste Kapitel, auch wenn sie sich zwingen musste, sich nicht zu hetzen, weil Luke, wie sie ihn kannte, sicher schon mit den Füßen scharrte.
Trotzdem war sie allzu bald fertig.
»Vielen, vielen Dank, Robin«, sagte sie und setzte sich auf. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie toll es für mich war, das alles hier zu sehen. Sich vorzustellen, dass Dickens selbst in diesem Buch gelesen hat.« Sie legte ihre behandschuhte Hand ganz leicht auf die Seiten, also wolle sie eine Brücke zu dem lang verstorbenen Autor schlagen. »Na, wenn ich das meiner Mutter erzähle.«
Sie hob den Kopf und schaute Luke an, der an einer Säule lehnte. »Kaum zu glauben, dass wir jetzt zu der Handvoll Leute gehören, die Zugang zu diesem Buch hatten!«
Luke nickte. »Tja, diese Liste hat’s wirklich in sich«, gab er widerwillig zu.
Sie stand auf. »Das
Weitere Kostenlose Bücher