Ein gutes Herz (German Edition)
abblätterte. Autowracks standen vor halb eingefallenen Garagen. Die Vorgärten waren nicht mehr als nackte Sandkästen oder wild wuchernde Grasflächen, denen man die Vernachlässigung ansah. In den Rinnsteinen lag Abfall.
Sie bogen in eine andere Seitenstraße ein, und Kohn sah durch die Windschutzscheibe einen halben Block weiter eine größere Ansammlung schwarz gekleideter Menschen. Zwei behelmte Polizisten blockierten, neben ihren weißen Motorrädern stehend, die Fahrbahn. In dieser Straße wollte Kohn seinen Besuch abstatten, und mit jeder Hausnummer wurde ihm klarer, dass sich die Leute genau bei der Adresse versammelt hatten, die ihm die Familie seines Spenders angegeben hatte.
Das Taxi wurde von den Polizisten an der Weiterfahrt gehindert und hielt.
»Das ist die Adresse, zu der Sie wollten«, sagte sein Fahrer, der Schwarze mit dem zerfurchten Gesicht und den wässrigen Augen, deren Weiß gelb verfärbt war.
»Warten Sie auf mich«, sagte Kohn.
»Wie lange bleiben Sie?«, fragte der Fahrer.
»Fünf Minuten oder eine Stunde, keine Ahnung.«
Er gab dem Mann einen Fünfzigdollarschein: »Wenn ich zurückkomme, verdopple ich das.«
Er stieg aus und ging auf die Polizisten zu. Jetzt entdeckte er, dass hinter der Mauer, die die Menschenansammlung bildete, ein weißer Leichenwagen wartete. Die Leute waren allesamt schwarz, auch die Polizisten.
Kohn überprüfte die Hausnummer und konstatierte, dass es sich tatsächlich um das Haus handelte, in dem man ihn erwartete.
Er sprach einen der Polizisten an: »Handelt es sich um jemanden von der Familie Davis?«
Der Polizist nickte, gab aber keine nähere Erläuterung.
»Ich bin mit jemandem von der Familie verabredet«, sagte Kohn.
»Sie haben eine Beerdigung«, erklärte der Polizist, als begreife Kohn nicht, was hier vor sich ging.
»Ich möchte zu Janet Davis«, sagte Kohn.
Der Polizist sah ihn einige Sekunden lang an, bevor er sagte: »Das ist die Beerdigung von Janet Davis.«
Gestern hatte Kohn einen Flug von Phoenix nach Los Angeles genommen. Vor einer Woche hatte er mit Janet Davis gesprochen. Drei Wochen davor hatte er bei der Organisation, die Spender und Empfänger zusammenbrachte, ein Gesuch um Auskunft und persönlichen Kontakt eingereicht.
Kohn atmete, dachte und fühlte mit dem Herzen von Janets verstorbenem Bruder, dem katholischen Priester Jimmy Davis. Er wollte mehr über ihn erfahren und gegebenenfalls dessen Familie finanziell unterstützen, wenn Bedarf bestand.
James Clemens Davis. Er gehörte dem Orden der Franziskaner an. Geboren in Los Angeles, Kalifornien, gestorben in Rochester, Minnesota. Kohn schlug für einen Moment die Augen nieder, während er seine Enttäuschung hinunterschluckte.
Einen Tag, bevor Jimmy Davis sterben sollte, war Max Kohn mit einer Chartermaschine von Las Vegas nach Rochester geflogen. Er stand schon seit zwei Jahren auf der Dringlichkeitsliste. Sein Kardiologe hatte ihm telefonisch mitgeteilt, dass ein Patient der Mayo Clinic in Minnesota für hirntot erklärt worden sei, dessen Herz genau zu ihm passe. Normalerweise wurde das Herz zum Patienten gebracht, aber Kohn zog es vor, nach Rochester zu reisen, um dort auf die Operation vorbereitet zu werden. Er ließ sich von einem Kardiologen begleiten, den er aus eigener Tasche bezahlte. Einschließlich des gecharterten Flugzeugs hatte ihn die Reise mehr als dreißigtausend Dollar gekostet.
Im Nachhinein konnte er nicht mehr sagen, wieso ihm so sehr daran gelegen war, zu dem Herzen hinzureisen. Die Reise war nicht ohne Risiken. Es mussten allerlei Apparaturen in dem schmalen Flugzeug untergebracht werden, aber er konnte ausgestreckt darin liegen. Normalerweise wäre das Herz von einem Chirurgen nach Las Vegas gebracht und dort dem Empfänger eingepflanzt worden. Kohn ließ sich sonst nicht von plötzlichen Eingebungen leiten, schon gar nicht von solchen sentimentaler Natur. Aber irgendwie war er davon überzeugt, dass er das Herz nicht reisen lassen durfte – das Herz erwartete ihn, so sein Empfinden.
Die Mayo Clinic in Rochester ging auf die Sisters of St. Francis zurück, einen 1877 gestifteten katholischen Orden. Nach einem verheerenden Tornado errichteten die Nonnen 1883 in Zusammenarbeit mit dem niedergelassenen Arzt Doktor William Mayo ein erstes kleines Hospital in Rochester. Daraus ging schließlich die Mayo Clinic hervor, eines der größten Krankenhäuser in Amerika, ein Arztzentrum mit mehr als siebzehnhundert Fachärzten und Spezialisten,
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