Ein gutes Herz (German Edition)
die sich noch an Bord der Maschine befanden, bei irgendeinem Zwischenstopp freigelassen werden sollten, auf einem Flughafen, den die Entführer bestimmen würden – damit behielten sie die Regie in den Händen und verhinderten, dass ein Überfall auf das Flugzeug vorbereitet werden konnte.
Die Zeitungen hatten Extraausgaben drucken lassen, was äußerst selten war. Die dicke Schlagzeile des Telegraaf lautete: » MOHAMED B. SIEGT «. Darunter das Foto mit dem Victory-Zeichen. Sonja war in einer Familie aufgewachsen, in der diese Zeitung gelesen wurde, aber als linke Studentin – welcher Student war nicht links? – durfte man sich ja nicht dabei ertappen lassen, dass man darin blätterte. Rechte Sensationsmache. Leon hatte seit mehreren Jahren eine Kolumne im Telegraaf. Sie wollte nicht darüber urteilen.
Im ›Le Pain Quotidien‹ hatte Leon sein iPhone neben seinen Teller auf die naturbelassene Kiefernholztischplatte gelegt und verfolgte darauf die Nachrichten über das Flugzeug, mit dem Boujeri zu einem unbekannten Ziel in Zentralasien unterwegs war. Die Maschine sei eine 737-700 ER – ER für »extended range« –, hatte Leon erklärt. Sie könne mehr als zehntausend Kilometer am Stück fliegen. In den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien lägen Hunderte verlassener Militärflughäfen, oft nicht mehr als eine Landebahn neben einer geplünderten Baracke nebst Tower. Mit mobiler, aber hochwertiger Lenkapparatur, die heutzutage in ein oder zwei Koffern unterzubringen sei, hatte Leon Nathan beim Frühstück erklärt, könne man eine 737 auf so einer Bahn landen. Und eine gute Crew könne bei guter Sicht sogar ohne Bodenkontrolle eine gelungene Landung bewerkstelligen. Das Ganze sei eine perfekt vorbereitete Aktion, und selbst wenn die Maschine per Satellit geortet würde, hätten die Entführer die Auswahl unter Dutzenden von Landemöglichkeiten und könnten sich gleich anschließend aus dem Staub machen. Nur wenn eine Gruppe von Fallschirmspringern dem entführten Flugzeug in einer Maschine folgen würde, die genauso schnell sei wie die 737, hätten die Niederlande eine Chance, die Entführer und Boujeri zu ergreifen, falls die nicht am Boden über bewaffnete Unterstützer verfügten. Vielleicht stünden dort ja Hunderte von Terroristen mit Bazookas und Stingers – »surface-to-air-missiles« – bereit, jenen berüchtigten tragbaren, infrarotgelenkten Raketen, die von kleinen Trucks abgefeuert werden könnten und der Horror jedes Hubschrauberpiloten seien. Haben wir so ein Flugzeug?, hatte Nathan gefragt. Nein, ein solches Fallschirmspringerflugzeug hätten die Niederlande nicht, und die diplomatischen Folgen des Einsatzes von Soldaten in souveränen asiatischen Staaten seien kaum abzusehen. Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan, Tadschikistan – in all diesen neuen Staaten seien islamistische Terrorbewegungen aktiv, und man vermute, dass es den niederländischen Marokkanern gelungen sei, mit diesen in Kontakt zu treten. Alle gingen davon aus, dass die Aktionen – der Anschlag aufs Opernhaus, die Freilassung Boujeris – von irgendeiner Höhle in Asien aus angezettelt worden seien. Das Ganze verrate Erfahrung auf allen Ebenen: Geheimhaltung, Planung, Disziplin, Durchführung. Über derlei konnte Leon sich lang und breit auslassen. Sonja ermüdete das. Nathan war eher dafür zu haben. War eben was für Jungs.
Die neuesten Nachrichten im Internet ließen freilich etwas Merkwürdiges verlauten: Die Maschine hatte südlich von München eine Kehrtwende gemacht und wieder Kurs auf Schiphol genommen. Man würde mehrere F -16-Kampfbomber der Niederländischen Streitkräfte in Bereitschaft bringen, um das Flugzeug abzufangen, falls es seinen Direktflug nach Schiphol fortsetzte. Angeblich war sogar das Okay dafür gegeben worden, das Feuer auf die Maschine zu eröffnen, wenn man den Eindruck gewinnen sollte, dass ein gezielter Absturz auf bewohntes Gebiet beabsichtigt war – eine Art »Nine Eleven« im Polderland.
»Nein, das darf nicht wahr sein«, sagte Sonja.
Leon schob sein iPhone zu ihr hin und zeigte ihr die Meldung auf nu.nl.
»Das ist gruselig, das ist…«
Unfassbar, was heute alles passieren konnte! Sie waren den kranken Phantasien einer Gruppe radikalisierter Halbstarker aus Slotervaart ausgeliefert – die Zeitungsredaktionen hatten schon in ihren ersten Ausgaben, noch bevor die Sondernummern erschienen, Geschichten und Fotos von den verdächtigten Mitgliedern einer Fußballmannschaft –
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