Ein gutes Herz (German Edition)
alles marokkanische Jugendliche – gebracht. Sie waren Tabellenführer ihrer Liga, und jeder Einzelne von ihnen war ein Fußballtalent. Der Krisenstab des Kabinetts tagte jetzt ununterbrochen. Sechs Tote in der Stopera, eine klaffende Wunde im Zentrum der Hauptstadt. Eine Flugzeugentführung, die zur Freilassung des Mörders von Theo van Gogh geführt hatte. Das Kabinett konnte nur reagieren – vorauszuschauen war unmöglich.
»Sollten wir nicht die Stadt verlassen, Leon? Was, wenn sie wirklich das Flugzeug auf uns runterstürzen lassen?«
»Das hätten sie gleich getan, wenn sie das vorgehabt hätten. Sie kommen wegen irgendetwas anderem zurück. Sie sind weggeflogen, weil sie…«
Sie sah, dass ihm eine Idee kam. Er war ein Phantast und konnte sich in solche Situationen manchmal sehr gut einfühlen. Er las Krimis und »Mystery Thriller«, Unterhaltungsliteratur, an die Sonja nicht ihre kostbare Zeit verschwenden wollte.
»… weil sie verhindern wollten, dass man sie auf dem Boden angreift«, meinte er. »Es standen ja Spezialeinsatzkräfte der Polizei bereit. Nein, sie kommen zurück, weil sie noch etwas anderes vorhaben. Vielleicht haben sie weitere Forderungen. Vielleicht sollten weitere Inhaftierte freigelassen werden. Wer sitzt denn noch im Gefängnis? Volkert van der Graaf, der Mörder von Pim Fortuyn? Ob der sein Schicksal in die Hände von Terroristen legen möchte? Angenommen, es geht ihnen um Volkert van der Graaf, das wäre schon ein Husarenstreich von diesen Verrückten…«
»Vielleicht«, sagte Sonja. Leon trug zu ihrer Beruhigung bei. Mit seiner Vorstellung davon, was noch passieren könnte. Das mit Volkert van der Graaf mochte vielleicht Unsinn sein, aber es beruhigte sie sofort. Sie fragte: »Warum haben sie das denn nicht gleich gefordert? Sie hätten doch mit ihm wegfliegen können, oder?«
»Publicity. Dramatik. Wir sollen denken, dass wir es hinter uns haben. Und dann kommt der nächste Schlag. Das endgültige K.o. Wir sind machtlos, und das reiben sie uns unter die Nase. Sie sind stark, wir sind nichts. Das ist ihre Botschaft. Wollen wir gehen?«
Er winkte der Kellnerin und deutete an, er wolle die Rechnung haben. Sie verstand sofort.
Gleich darauf schwoll zu beiden Enden der Cornelis Schuytstraat, also von der De Lairessestraat und dem Willemsparkweg her, das Heulen Dutzender Polizeisirenen an. Oder waren es Hunderte? Binnen zwei Sekunden verstummte das Stimmengewirr in der vollen Bäckerei. Niemand wagte, sich zu rühren, als sollte ein Foto auf einen antiquierten, empfindlichen Bildträger gebannt werden. Das Sirenengeheul intensivierte sich, Beunruhigung erfüllte die Atmosphäre. Die Bedienungen hielten inne und schauten nach draußen. Die Gäste nahmen keinen Bissen, keinen Schluck mehr zu sich, verharrten wie schockgefroren. Die Sirenen hallten von den Häuserwänden wider, schrien nach Aufmerksamkeit.
Sekunden später flaute der Lärm ab, und es kehrte wieder Ruhe in der Straße ein. Das Personal setzte sich in Bewegung, und die Gäste fingen plötzlich – alle gleichzeitig, wie es schien – wieder an zu reden, lauter und lebhafter als zuvor, als wollten sie die Beunruhigung damit beschwören.
Sonja musste etwas unternehmen, sie konnte nicht anders. Das war ihr in den vergangenen zehn Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Folge deiner Intuition. Warte nicht, bis es zu spät ist. Du wirst nie bereuen, dass du zu früh gehandelt hast, wohl aber, wenn du zu spät dran warst.
»Wir holen ihn aus der Schule«, sagte Sonja. »Ich will diese Stadt verlassen.«
Sie erhob sich, und de Winter folgte ihr.
Er sah sie skeptisch an. »Wo willst du denn hin?«
»Irgendwohin, wo wir in Sicherheit sind. Wir fahren einfach Richtung Süden.«
»Und dort ist man in Sicherheit?«
»Ja, dort fühle ich mich sicher. Du kannst von mir aus hierbleiben, wenn du willst«, fügte sie schroff hinzu. Und das tat ihr sofort leid. »Entschuldige, so habe ich es nicht gemeint. Aber ich will jetzt unbedingt weg aus dieser Stadt.«
De Winter nickte ergeben. Er zog einen Zwanzigeuro-schein aus seiner Hosentasche und ging zur Kasse.
Sonja sagte: »Leg’s einfach hin, warte nicht auf das Wechselgeld. Ich hab’s eilig.«
Sie verließen die Bäckerei und schlossen ihre Räder auf. Die Sirenen heulten immer noch, von irgendeinem Ort her, der nicht sehr weit von ihnen entfernt war. Sonja zückte ihr Handy und drückte auf die gespeicherte Nummer von Nathans BlackBerry, aber er nahm nicht ab. Er
Weitere Kostenlose Bücher